Kerzendochte knistern leise, wenn man sie entzündet. Gerade in der Frühe höre ich dies‘ kaum hörbare besonders laut. Vielleicht ist das so, weil es mir dann noch schwer fällt, die Augen aufzuhalten. Das Knistern dauert auch nicht besonders lange, aber es ist da. Wenn ich dann wieder an meinem Platze stehe und vom Altar die Kerzen scheinen, dann erzählen sie mir, dass der HErr mir wieder einen neuen Tag geschenkt hat. Im August diesen Jahres durfte ich erleben, wie mir die Kerzen vom Altar der Gebetskapelle der Gartenkirche St. Marien in Hannover leuchteten.
Die Gartenkirche und ihre Gastfreundschaft
Wenn ich heute an die Zeit in der Gartenkirche zurückdenke, gehen mir viele Gedanken durch den Kopf. Das erste, was mir meine Erinnerung heute erzählt, ist das Gefühl, dass ich willkommen war. Zu Besuch war ich beim derzeitigen Pastoren, der mich in sein Gästezimmer aufnahm. Aus dessen Fenster konnte ich auf den Gartenfriedhof und das Grab von Goethes Lotte schauen. Vom Pfarrhaus der Kirche musste ich nur einmal über den Hof huschen und stand schon mitten in der Gebetskapelle, in der ich mein Stundengebet halten konnte. Da die Kirche des Tages geöffnet ist und von treuen Gemeindegliedern betreut wird, hatte ich zunächst Bedenken, dass ich jemanden stören könnte. Aber im Gegenteil freuten sich alle, dass aus der kleinen Seitenkapelle Psalmen und Hymnen erklangen, die leise das Kirchenschiff erfüllten.
Gastfreundschaft ist für die Kirchengemeinde auch jenseits von Liturgiefüchsen ein wichtiges Anliegen. Sie ist eine der evangelisch-lutherischen Gemeinden, die sich um die Flüchtlingswellen der jüngsten Vergangenheit kümmern und eine blühende Seelsorge betreiben. Im Sonntagsgottesdienst habe ich viele Gesichter gesehen, die – von den Sorgen der Flucht faltig geworden – heute wieder lachen können.
Weg zum Archiv
Der Grund meines Aufenthaltes in Hannover waren meine Nachforschungen im Archiv. Den etwa zwanzigminütigen Fußweg jeden morgen habe ich sehr genossen. Wenngleich ich mittlerweile glaube, dass die Autofahrer in Hannover ihre Hupen sehr viel exzessiver nutzen oder dass der Gebrauch der Hupe in der Fahrschule aktiver beigebracht wird als andernorts, so war der Fußweg am Rathaus vorbei und an der Leine mit den großen Nanas entlang, morgens eine erholsame Abwechslung zu den staubigen Akten. Für meine Lunge waren die jedenfalls eine ziemliche Herausforderung. Denn der jahrzehntealte Staub der Akten setzt sich ziemlich fies auf die Bronchien. Aber zum Glück blieb der Husten bei beiden Aufenthalten in diesem Jahr nicht lange. Und heute muss ich mich bewusst wieder daran erinnern, so viele schöne Eindrücke überlagern den staubigen Störenfried.
Die Gartenkirche — ein sagenhafter Ort
Während meines Theologiestudiums, und diese Erfahrung teile ich mit dem jetzigen Pastoren der Gartenkirche und mit dessen Vorgänger, habe ich immer wieder die Reserviertheit der Kommilitonen gespürt, wenn es um die Liturgie ging. Es schickte sich nicht, zuzugeben, dass man den Wert liturgischer Handlung und Gestaltung schätzte. Die pure Predigt und eht’le Simplizitaet wurden immer als das bessere und wichtigere angeführt. Man muss dabei die Lippen spitzen und etwas angewidert und verkniffen dreinschauen, um den Klang der Worte richtig scheppernd zu imitieren.
Um ehrlich zu sein: Warum man diese zwei notwendigen Fundamente jeder gottesdienstlichen Handlung, gesehenes und gesprochenes Wort so gerne gegeneinander ausspielt, weiß ich bis heute nicht. Die Gartenkirche war jedenfalls immer ein Ort, der einen gewissen Ruf genoss.
Warum das so ist, habe ich selbst erleben dürfen: Im Unterschied zu vielen anderen evangelischen, auch spezifisch evangelisch-lutherischen, Gemeinden werden hier seit vielen Jahren mehrere Abendmahlsgottesdienste in der Woche gefeiert. Dies im Verbund mit der Verwendung von Paramenten und Gewändern, die treu auf die westkirchliche Tradition des Luthertums verweisen, machen die Gartenkirche zu einem außergewöhnlichen Ort.
Über drei Jahrhunderte hinweg ist es gang und gäbe gewesen, dass evangelische Messen in Messgewändern zelebriert wurden. Erst 1817 kam der typische Talar durch preußischen Erlass als Amtstracht auf. Er verdrängte (wahrscheinlich aus Kosten- und Praktikabilitätsgründen) die vorher übliche Kleidung. Wenn man auf die hochgelobten #Reformation500 schaut, ist der Talar witzigerweise immer noch eine relativ junge Erscheinung.
Zwei Werktagsmessen und ein sonntägliches Hochamt
Mittwochs, freitags und am Herrentag wird hier das Heilige Abendmahl gefeiert. Ich freute mich in dieser Zeit erleben zu dürfen, dass die Gottesdienste immer gut besucht waren. Eine Schola in schlichten Mantelalben begleitete die Feier sonntags mit Stücken deutscher Gregorianik. Mehrere Ministranten in Talaren und Chorröcken mit Flambeaux und Vortragekreuz und zwei Leviten an der Seite des zelebrierenden Pastoren ließen mich still an die Feierlichkeit der Kirchen der anglikanischen Reformation denken. Und ich war erstaunt, wie mit einem Mal auch eine innerreformatorische Ökumene sich durch die Gestaltung abzeichnete. Hier war nicht mehr die Einzelgemeinde im privaten Rahmen versammelt, sondern die Eine Heilige Kirche, die das Nizänum bekennt, bildete sich ab in der Feier.
Historie, Zeitgeschichte und Zeitgenossen
Die Tage in Hannover waren neben meinem Erleben des Kirchraums und dem Trubel der niedersächsischen Landeshauptstadt, auch von vielen Gesprächen geprägt. Denn wenn man ein historisches Thema bearbeitet, dass noch gar nicht so lange her ist, dann gibt es viele Menschen, die sich auf die ein oder andere Weise als wertvolle Quellen erweisen. Entweder weil sie selbst Zeitgenossen waren oder vielleicht noch Zeitgenossen kennengelernt haben, von denen sie erzählen können.
Mit dem Vikar der Evangelischen Michaelsbruderschaft, der an der Gartenkirche lange Zeit Dienst getan hat, habe ich zum Beispiel einen solchen Menschen kennenlernen dürfen, der mir auch persönlich lieb und teuer wurde. Das kam völlig unerwartet und macht mir die Unterstützung, die er meinen Forschungen gewährt, nochmal so wertvoll. Unverhofft vermittelte er mir den Kontakt zu einem alten mittlerweile nahezu erblindeten Michaelsbruder in Minden, den ich seither in meine Gebete eingeschlossen habe.
Es beeindruckte mich insgesamt sehr, Menschen zu erleben, die die Personen noch hautnah erlebt haben, die mir nur durch ihre Schriften und über Photographien erreichbar sind.
Einen Nachtrag möchte ich einen Tag nach Veröffentlichung ergänzen: Am gestrigen Abend erfuhr ich, dass der Mindener Michaelsbruder etwa zwei Wochen vor Veröffentlichung meines Beitrages aus der Zeit in die Ewigkeit abberufen worden ist. Als er mich im Spätsommer verabschiedete, versprach er mir, dass wenn wir uns wiedersehen, wir gemeinsam vor dem HErrn die herrlichen Hymnen des Himmels singen werden. Möge er schauen, was er geglaubt hat. HErr, gib ihm die ewige Ruhe und das ewige Licht leuchte ihm.
Die Gartenkirche im Fluss der Zeit
Die Gartenkirche hat eine bewegte Geschichte hinter sich gebracht. Im Gespräch mit beiden Pastoren ist mir das aufgefallen. Und es lässt mich bis heute schmunzeln, dass das evangelische Gemeindesiegel durch ein B.M.V. (Beatae Mariae Virginis) ausgezeichnet ist. Doch wie kam es dazu? 1349 wurde eine Kapelle vor dem hannoverschen Aegidientor gestiftet. Sie war die Vorvorgängerin der heutigen Kirche. Seit dieser Zeit stehen die Kirchbauten unter dem Patrozinium der Gottesmutter.
Zum anderen Teil ihres Namens kam die Gartenkirche St. Marien, weil sie in den Obstgärten vor der königlichen Residenzstadt stand. Sie war die Kirche der Bauern, die in ihren Hütten (den Koten) um die mittlerweile neu gebaute Kirche wohnten. Neu gebaut, weil die alte Kapelle der Festungserweiterung zum Opfer gefallen war und mit der Stiftung von 4500 Talern an die königliche Kanzlei konnte 1746 der erste Pastor besoldet werden. Bis heute präsentiert die Landeskirche die Pastoren ihrer neuen Gemeinde. Eine charmant-archaische Anmutung, wie ich finde.
Das bewegte 20. Jahrhundert der Gartenkirche
Es gibt in den „kleinen Kunstführern“ ein eigenes Heft zur Gartenkirche, das ich nur sehr empfehlen kann. Meines habe ich am Info-Stand in der Gartenkirche gekauft. Vielleicht kommt Ihr ja mal an Hannover und dieser Kirche vorbei. In diesem Heft könnt Ihr die Geschichte noch viel detaillierter nachlesen, als meine skizzenhafte Darstellung für diesen blogpost hier. (Und sie enthält nebenbei bemerkt einen sehr lesenswerten geistlichen Impuls des Vikars der Michaelsbruderschaft zur liturgischen Prägung der Kirche.) Was dort nicht steht, will ich hier dennoch ergänzen. Denn die Kirche an dem wunderbaren klassizistischen Friedhof mit den Gräbern von Goethes Lotte, dem Lehrer, dem seine Schülerinnen ein überbordendes Grabmal stifteten und zuletzt dem Menschenfressergrab, das ein hannoverscher Mitbruder mir zeigte, erfuhr Aufbruch und Zerstörung.
Liturgische Aufbrüche
Die beiden großen Bruderschaften, die die liturgische Gestalt des protestantischen Gottesdienstes im 20. Jahrhundert entscheidend veränderten, haben beide ihre Spuren in der Gartenkirche hinterlassen. Die reiche Ausgestaltung in Wort, Ton, Stoff und Handlung ist sicher durch die Bemühungen von Hochkirchlicher St.-Johannes-Bruderschaft und Evangelischer Michaelsbruderschaft entstanden und als Impulse in diese landeskirchliche Gemeinde hineingetragen worden.
Dennoch zeigt der jetzige Pastor der Gartenkirche, der selbst keiner solchen Gemeinschaft angehört, dass diese reichere Gestaltung dem evangelischen Gemeindeverständnis nicht fremd ist. Im Gegenteil beweist er, wie nahtlos das Engagement seiner Vorgänger fortgeführt wird. Zahlen der Gottesdienstbesucher sagen nicht direkt etwas über die Qualität der Gemeindearbeit aus: aber mein Eindruck war dennoch, dass er die seelsorgerlichen Bedürfnisse unterschiedlichster Menschen dort erreicht. Hier ist gelungen, liturgischen Aufbruch in landeskirchliche Gemeindestrukturen zu überführen. Und das zur gegenseitigen Bereicherung.
Der Garten der Kirche
Bei meinem ersten Besuch in Hannover wollte ich die Gartenkirche unbedingt sehen. Wegen all der Dinge, von denen ich oben geschrieben habe. Wer sich der Kirche über die Marienstraße von der City aus nähert, läuft zuerst an dem Friedhof entlang und erhält so schon einen ersten Eindruck von den verwitterten steinernen Denkmälern vergangener Zeiten. Mir waren die teilweise pechschwarzen und grünbemoosten Steine zunächst ein wenig unheimlich. Das war auch der Grund, weshalb ich schnell durch das Portal in die Kirche schlüpfte. Und dennoch hat mich der Friedhof gefangen und ich bin mit Staunen über diese Oase der Ruhe gelaufen. So viele Menschen mit ihren Lebensgeschichten warteten dort auf die Auferstehung. Der Lärm der Straße verpuffte und ich war wie der Zeit entrückt. Das passiert mir ja gerne mal bei meinen Spaziergängen über Friedhöfe.
Die Gärten der Bibel
Die Bibel verbindet oft besondere Begebenheiten mit besonderen Orten. Die Berge und Hügel sind Orte der Gottesnähe. Das Meer und die Seen sind Orte der Anfechtung und Gefahr. Auch Gärten sind biblische Motive. Sie sind Orte des Anbaus von Früchten und Nahrung überhaupt. Und schon im Alten Testament ist Gott ein Gärtner. Darum heißt es auch, dass die Menschen in seinem Dienst im Weinberg arbeiten, weil auch die Weinberge biblische Gärten sind. Es sind abgeschlossene Bereiche, in denen man ungestört ist. Davon singt das Hohelied etwa. Besonders schmerzhaft ist deswegen der Verrat des Judas im Garten: Da wird der Ort des Rückzugs, der eigentlich Schutz gewährt, zum Ort der Auslieferung. Und ebenso liegt das neue Grab des Josef von Arimathäa in einem Garten.
Die Gartenkirche mit ihrem Friedhof ließ mich allerdings eher an den Garten Eden denken. Das Paradies. Nicht wegen einer liturgischen Gestaltung, die sich sicher im Lauf der Zeit immer wieder anpassen wird an die Menschen, die sie feiern. Nein, ich kam auf den Gedanken, weil ich die Menschen, die hier lagen, als die Reben am Weinstock des HErrn sah. Sie waren die Früchte und ihr Leben hat reiche Ernte gebracht. Eine Ernte, von der wir heute leben.
Gebe GOtt, dass auch unser Leben so reiche Frucht bringt. Das wünscht Euch
Euer Liturgiefuchs