Es war wirklich ein Experiment. Überall wird uns heute eine riesige Auswahl offeriert. Der Überfluss, der darin zum Ausdruck kommt, ist für uns völlig normal. Wir testen, vergleichen, sondern aus. Die Gewöhnung an individuelle Wahlmöglichkeit hat in der Gegenwart dazu geführt, dass viele liturgische Formen gleichwertig nebeneinander zustehen kommen. In der Propsteikirche St. Clemens in Hannover gibt es zum Beispiel jeden Sonntag fünf Messen, die von unterschiedlichen Gemeinschaften gefeiert werden. Jede und jeder kann sich also diejenige Feier herauspicken, die er oder sie gerne feiern möchte.
Das Kirchengebäude aber erlebt jeden Sonntag alle fünf Eucharistiefeiern. Einen Tag im Leben dieser Kirche in Gänze mitzuerleben, war das erklärte Ziel meines Experiments. Deswegen war der Liturgiefuchs an einem Sonntag Besucher aller fünf Messen. Und den Reichtum, den ich dort erlebte, stelle ich Euch heute vor!
St. Clemens in Hannover
Mitten in Hannover, links der Leine, rechts der Ihme, überragt in der Calenberger Neustadt eine Kuppel alle Häuser. Als das Zentrum römisch-katholischen Gemeindelebens steht dort die Propsteikirche St. Clemens. Sie ist relativ jung. Gerade einmal vor knapp 300 Jahren geweiht, ist sie Beweis für Hannovers wechselvolle konfessionelle Geschichte. Sie hat die Geschichte der Stadt mitgeprägt und miterlebt. Im zweiten Weltkrieg völlig ausgebombt, musste St. Clemens danach wieder aufgebaut werden. Heute zeigt sie sich deswegen von außen in einem Kleid alter italienischer Architektur und von innen trägt sie die karge, fast schon bittere deutsche Nachkriegsspiritualität auf. Ihre hohe vom Kreuz gekrönte Kuppel grüßte mich auf meinem allmorgendlichen Weg zum Archiv. Ich war sehr gespannt, was ich an diesem Sonntag bei meinem Experiment alles erleben würde.
Alle versammelt um den einen Altar
Die Statuen der zwölf Apostel sind markant um den Volksaltar der Basilika herumgruppiert. Sie sind steingewordenes Zeugnis für die ersten Menschen, die in der Nachfolge Christi lebten. Wie sie damals den Herrn Jesus Christus umgaben, so blicken sie heute alle in die Vierung. Sie sind alle versammelt um den einen Altar. Genauso würden es die fünf Gemeinschaften sein. Um 10 Uhr feierten Gemeinde und Propst das Hochamt. Daran anschließend führte um 11.30 Uhr ein Jesuitenpater durch die sogenannte Initiative Spätmesse der Gemeinde „Hl. Johannes XXIII.“. Nach diesen beiden Eucharistiefeiern hatte ich ein wenig Mittagspause und konnte mich erholen. Die Erholung zwischen den Messen, dessen war ich mir im Vorhinein bewusst, war von zentraler Bedeutung, um einen klaren Blick zu behalten.
Die zweite Hälfte des Tages begann für mich um 15.30 Uhr. Da feierte die Gemeinde ein lateinisches Hochamt in der forma extraordinaria, bei dem ein Pater der Priesterbruderschaft St. Petrus (FSSP) zelebrierte. Die Messe der spanischen Mission danach führte mir die internationale Weite der Römischen Kirche vor Augen. Und der Hochschulgottesdienst der Katholischen Hochschulgemeinde (KHG) beschloß den Tag. So sah der Versuchsablauf meines Experiments aus. Doch vielleicht verliere ich zuerst ein paar Worte zum Versuchsaufbau.
Der Versuchsaufbau des Experiments
Ausgerüstet war ich mit meiner Kamera, meinem blauen Notizbuch und einem Bleistift. Da die Kirche niemals Versuchsgelände sein darf und ich mich insofern mit jedem meiner Beiträge für liturgica.org auf Messersschneide bewege, nehme ich den Großteil der Photographien immer im Vorhinein auf. Nach meinem eigenen Anspruch soll nämlich niemand durch den Liturgiefuchs gestört werden. Dieser Gedanke ist mir unerträglich und prägt daher jede meiner Recherchen. Ich kaschiere etwa das Klackern des Spiegels meiner Kamera mit den Tönen der Orgel. Auch Notizen während der Heiligen Handlung versuche ich weitestgehend zu vermeiden. So saß ich auf der Evangelienseite des Hauptschiffs und hatte von dort einen guten Blick auf den Altarraum. Das Experiment konnte beginnen!
Der Altarraum
Der Altarraum von St. Clemens hat eine seltsame Struktur. Dem Geist des zweiten Vatikanums folgend ist der Volksaltar gänzlich umschreitbar. Sein Ort in der Vierung unter der hohen Kuppel korrespondiert ganz harmonisch mit der Form der Basilika. Das alte Altarretabel allerdings, wo immer noch die sechs Kerzenleuchter der Tradition, die heute erloschen bleiben, und ein Crucifixus stehen, ist vom Altar abgerückt und scheint daran zu erinnern, dass diese Aufteilung des Kirchraums vermutlich nicht die ursprüngliche war. An der Front des Altars ist das Reliquiengrab in Glas gefasst und so für die Gläubigen sichtbar. Drei eiserne Kerzenständer, deren Kerzen zur Eucharistiefeier entzündet werden, sind ihm zur Seite gestellt. Auf der Epistelseite des Altars steht die Kanzel, an der die Frohe Botschaft verkündet wird. An die graue Kulisse mit Kreuz und Leuchtern, die unmotiviert den Spieltisch der Orgel hinter sich verbirgt, konnte ich mich den ganzen Tag nicht recht gewöhnen.
Das Hochamt mit dem Propst
Das Experiment begann für mich also mit dem Hochamt. Als ich die Kirche durch das Hauptportal betrat, hörte ich schon geschäftiges Treiben. Denn die Kirche war bereits um viertel vor 10 gut besucht und füllte sich bis zum Beginn der Messe nochmal deutlich an. Das steigerte natürlich meine Vorfreude. Die Gemeinde war sehr gesund durchmischt. Von den Alten im Rollstuhl bis hin zu zwei Kleinkindern in ihren Kinderwägen war jede Altersschicht vertreten. Der Altar war mit einer Decke bekleidet, aber sonst leer. Auf einer Kredenz anbei waren die vasa sacra für die Eucharistie bereits gerichtet. Schließlich begannen um kurz vor 10 die Glocken der Basilika zu läuten und kündeten vom baldigen Beginn der heiligen Handlung.
Liturgische Gestaltung des Hochamts
Als die Glocken verklangen, betrat eine Dame die Kanzel, die die Gemeinde begrüßte. Die Situation kam mir vor wie der Werbespot vor der Tagesschau. Alle warten gebannt, aber dann muss nochmal Werbung eingeblendet werden. Man toleriert das still. Die Sakristeiglocke signalisierte den Einzug. Vier Ministranten und eine Lektorin führten die Prozession an, die durch den Propst im Messgewand mit moderner grüner Casel beschlossen wurde. Ich genoss die ruhige und überaus aufmerksame Art des Priesters, die angenehm von sich selbst weg hin auf Christus verwies. Gerade in der Predigt, die er frei hielt, beeindruckte er mit einem feinen Gespür für Sprache und einer großen menschenfreundlichen Wärme, die aus seinen Worten sprach.
Als die Feier zu ihrem Höhepunkt voranschritt, stand die Dame, die uns begrüßt hatte, auf und ging gesenkten Blickes zum Tabernakel. Sie musste sich in der Zwischenzeit einen weißen Schal umgelegt haben. Bei der Begrüßung war er mir nicht aufgefallen. Am Tabernakel angekommen entnahm sie das Allerheiligste und brachte es zum Altar. Es folgten Gebete und die heilige Kommunion der Gemeinde. Irritiert dachte ich noch, das wird nicht als Politikum gemeint sein, als sie nach ihrem Dienst – das Ziborium hatte sie treu wieder verstaut – zurück in die Bank trat. Immerhin ist es gerade in Kirchen oft etwas kühler. Doch bevor sie sich setzte, nahm sie sich den Schal ab, den sie wie eine Stola übergeworfen hatte, und faltete ihn bedächtig zweimal zusammen. Anscheinend verstand sie ihn als Teil ihres Dienstes am Altar.
Zwischenstand nach der ersten Messe — Das Experiment hat begonnen
Nach dem Hochamt setzte ich mich auf die Bank gegenüber des Hauptportals und ließ die Feier noch einmal Revue passieren. Langsam kamen nach und nach die Gemeindeglieder aus der Basilika heraus. Von der geistlichen Tiefe des Propstes war ich immer noch ganz gefangen. Dass ich mich heute immer noch so gut an diese Eucharistiefeier erinnere, hätte ich an dem Tag nicht gedacht. Im Gegenteil hatte ich Sorge, dass ich die Gottesdienste hier auf liturgica.org nicht würde würdigen können. Doch diese Sorge war unbegründet. Denn ich höre den Kantoren noch psalmodieren, die Lektorin lesen und den Priester beten. In einem Satz gesprochen war die liturgische Gestaltung von einer großen Glaubwürdigkeit geprägt und man spürte, das ein großer Segen auf dieser Gemeinde liegt.
Als meine Gedanken so herumstreiften, fiel mein Blick auf eine kleine Gruppe, die sich etwas abseits der Gottesdienstgemeinde getroffen hatte. An den Revers der Anzüge von zweien schimmerten silberne Kreuze, ob das wohl die Jesuitenpatres sein würden? Die Spätmesse sollte ja bald schon beginnen. Das, was am Hochamt wirklich besonders war, sollte mir erst im Verlauf des Tages wirklich vor Augen treten.
Die Initiative Spätmesse
Die Gottesdienste der Gemeinde Hl. Johannes XXIII. „möchte[n] nicht nur GottesdienstbesucherInnen im üblichen Sinne ansprechen. Sondern sie [sc. die Gemeinde Hl. Johannes XXIII., Anm. d. Liturgiefuchs] gestaltet die Gottesdienste auch für Menschen, die in der Region zu Gast sind oder die keine Bindung mehr an Kirchengemeinden haben. Thematisch werden auch aktuelle und drängende Menschheitsprobleme einbezogen. Die Eucharistiefeiern, die abwechselnd von sechs Priestern gehalten werden, möchten außerdem Raum für Besinnlichkeit und Meditation geben.“ Diese Selbstbeschreibung findet man auf der Seite der Initiative Spätmesse. Wenn ich das lese, fallen mir direkt verschiedene Dinge auf.
Vorerwartung zur Spätmesse
Weil dies eine moderne Gottesdienstform ist, die versucht, sich von klassischen Formen abzuheben, will ich ein paar Schlaglichter auf die Selbstbeschreibung werfen. Hier versucht man Menschen anzusprechen, die mit Kirche nicht so viel anfangen können. Wenn diese zur Spätmesse kommen, sollen sie eine Umgebung vorfinden, die sie von draußen kennen. Die Fragen des Alltags sollen hier zur Sprache kommen. Und dazu bedient man sich der Sprache des Alltags. Etwa steckt schon im Begriff GottesdienstbesucherInnen ein anderer Geist als im traditionellen Gemeindebegriff. Das eine bringt Zusammenhalt, gestiftet durch den gemeinsamen Glauben an Christus zum Ausdruck. Das andere meint eher eine zufällig zusammengesetzte Größe von Menschen, die heute mal zum Gottesdienst kommen. Wohingegen sie morgen vielleicht ins Kino gehen.
Die Menschen sollen hier nicht im üblichen Sinne angesprochen werden. Das bleibt natürlich ganz blass formuliert. So genau kann ich mir unter dem üblichen Sinn nichts vorstellen. Der übliche Sinn, den ich dem Gottesdienst beimesse, ist für gewöhnlich, dass er mich von mir weg hin zu Christus führen soll. Ich möchte durch die Eucharistiefeier in Berührung mit dem Alleinheiligen kommen. Und ich wage sogar zu glauben, dass das auch anderen Menschen so geht: gerade den Kirchenfernen. Diese würden bestimmt nicht meine Worte wählen, aber ich glaube das Empfinden und die Sehnsucht nach dem, was ich mir selbst weder geben noch kaufen kann, die teile ich mit vielen Menschen. Mal sehen, welche Formen bei der Spätmesse Verwendung finden!
Liturgische Gestaltung der Spätmesse
Die Kirche war ein weiteres Mal gut gefüllt. Allerdings waren nun wesentlich mehr und vornehmlich ältere Menschen gekommen. Ich schätzte ihre Lebenssituation so ungefähr auf den Renteneintritt und älter. Da erklang die Sakristeiglocke zum zweiten Mal und einsam zog ein einzelner, ergrauter Priester ein. Hatten die Messdiener ihn im Stich gelassen? Er tat mir direkt ein wenig leid, aber bald wurde mir klar, dass das eine bewusste Gestaltungsentscheidung war. Denn ein anderer Jesuitenpater in zivil (ich erkannte ihn am Kreuz an seinem Revers) hatte die GottesdienstbesucherInnen im vorhinein begrüßt. Die zweite Werbepause an diesem Tag. Warum er allerdings nicht am Altar diente, habe ich nicht verstanden. Anscheinend war er grade „nicht dran“. So stand der Priester ganz allein im Altarraum. Und dann begann die Spätmesse für mich mit einem kräftigen Holpern.
Der Friedensgruß in der trinitarischen Form eröffnete nämlich die Feier: „Die Gnade unseres Herrn Jesu Christi, die Liebe Gottes des mütterlichen Vaters und die Koinonia des heiligen Geistes […] sei mit uns allen.“, hörte ich ihn sagen. Sollten nicht Fragen des Alltags besprochen werden und Kirchenferne einen Ort haben? Ist diese paradox-sexuelle Abwandlung leichter zu verstehen als das ursprüngliche? Können Väter nicht mit Herzenswärme lieben? Wenn man in diesen verkopften Kategorien denken möchte, kann man überlegen auf das Gottesprädikat Vater in der Predigt einzugehen. Vielleicht – den Gedanken will ich nur mal in den Raum stellen – fokussiert die schmale Linse der Gendersprache etwas zu stark für liturgische Sprache und lässt notwendig weite Teile unserer alltäglichen Lebenswirklichkeit außer Acht. Auch konnte ich mir nicht vorstellen, dass die kirchenfernen Menschen mit Koinonia des Heiligen Geistes mehr anfangen können als mit dem deutschen Wort Gemeinschaft.
Der Priester als Zentrum in der Spätmesse
Bald schon fiel mir auf, dass der Priester ganz bewusst allein dort stand. Er betete, er sang vor, er las, er predigte, er zelebrierte. Und so vereinte er alle möglichen ursprünglich auf die Vielfalt menschlichen Daseins ausgelegten Aufgaben der Liturgie in seiner Person. Die Gemeinde wurde zum Publikum, zu GottesdienstbesucherInnen. Wie es auch KinobesucherInnen oder KonzertbesucherInnen gibt. Dem Kinobetreiber ist es nämlich egal, wer da sitzt. Hauptsache das Geld in den Kasten springt. Dem liebenden Gott sind wir aber nicht egal. Eigentlich sollen darum viele Menschen gemeinsam den Gottesdienst feiern. Nach den Gaben, die Gott schenkt. Ich vermute, der Priester tat dies mit der Begründung, dass es so doch „einfacher“ oder „schlichter“ sei. Die Folge dieser Entscheidung ist natürlich, dass der Priester zum allesentscheidenden Zentrum wird. An ihm hängt dann alles. Ohne ihn geht nichts. Traditionellerweise nennen wir dieses Phänomen dann Klerikalismus.
Die Predigt der Spätmesse
Als die Feier zur Predigt voranschritt, war ich besonders gespannt. Welche modernen Begriffe würde der Priester verwenden? Christi Gleichnis vom Sämann ist ja ein dankbarer und wunderbar plastischer Text. „Kann man dieses Evangelium heute noch sagen?“ Das war die wenig innovative Frage, die der Jesuit in den Raum stellte. Ich möchte einmal dagegen fragen: „Wird die Zeit kommen, in der Menschen die Heilige Schrift abschaffen?“ Denn das wäre ja nun die Konsequenz, wenn er auf seine Frage keine andere Antwort als Nein findet. Der Priester kam zu einem ersten Zwischenstand: „Eigentlich kann man sie [sc. das Gleichnis vom Sämann, Anm. d. Liturgiefuchs] verstehen, wenn man will.“ Der kleine unscheinbare Nachsatz ist das entscheidende. Denn damit war ganz klar formuliert, dass es an der Entscheidung des Menschen hängt. Man muss die Geschichte eben verstehen wollen. Und im Duktus des Gleichnisses musste ich dann schlussfolgern, wer das also nicht will, ist verloren.
Vermutlich kam die Gemeinde auf ein ähnliches Ergebnis, denn mit einem mal zischelten Zwischenbemerkungen aus den Reihen um mich her. Mit „Unterstellung!“ quittierte eine GottesdienstbesucherIn hinter mir giftig die Aussage, dass ein normaler Mensch das Wort Gottes, als das der Jesuit den Samen des Gleichnis deutete, eben nicht in sich hineinfallen lassen will. „Eigenwerbung!“ schimpfte jemand von links, als der Priester von seiner Gabe zu schreiben sprach und ankündigte, dass wieder ein neues Buch erscheinen wird. Schlucken musste ich aber wegen einer anderen Anekdote des Jesuiten von einem Sterbenden im Krankenhaus, dem er – anscheinend im Sinne der Sterbesakramente – angeboten hatte, „über das Leben zu reden“. Dies habe der Sterbende beantwortet „Nein erstmal muss ich hier heraus.“ Priester: „Ja, das war dann im Fegefeuer. [Erg. wo er über sein Leben nachdenken konnte, Anm. d. Liturgiefuchs]“ Wollte man nicht die Kirchenfernen ansprechen? Es gibt sicher glücklichere und werbendere Zugänge als das Purgatorium.
Zwischenstand nach der zweiten Messe — das Experiment geht weiter
Nach der zweiten Messe war ich froh, ein paar Stunden Mittagspause zu haben. Die spontanen Fürbitten, bei denen der Priester, der uns begrüßte, in zivil mit Mikrophon durch die Kirche lief, um die Gebetsanliegen zu sammeln, habe ich mehr oder weniger über mich ergehen lassen. Dass Gott im Eucharistieteil aufgefordert wurde „Herr schau auf unsere Sünden“, wo Er sonst demütig gebeten wird, die Sünden gnädig außer Acht zu lassen und stattdessen auf den Glauben seiner Kirche zu schauen, und dass von Maria als der JungEN Frau gesprochen wurde — all das waren Früchte der nachkonziliaren Bewegung im Romkatholizismus. Im Neuen Testament heißt es an einer Stelle „Prüfet alles, das Gute behaltet.“ Ich bin sehr gespannt, ob die Fragen der 68er-Generation für die Zukunft von Belang sein werden.
Liturgiehistorisch war die Spätmesse für mein Experiment auf jeden Fall ein großer Gewinn. Denn sie zeigte in Reinform die Fragen und die Gestaltungsentscheidungen einer bestimmten Generation auf. Die bewusste Abkehr von der liturgischen Vielfalt hin zur Einfalt, könnte man sagen. Der größte Sprung im Verlauf des Tages stand mir jetzt bevor. Dessen war ich mir auf dem Rückweg in mein Domizil sehr bewusst. Denn die missa cantata, das lateinische Hochamt der Petrusbruderschaft, wäre in den Augen der Gemeinde Johannes XXIII. das Paradebeispiel für alles ihnen Widerstreitende.
Das Lateinische Hochamt der Petrusbruderschaft
Am Nachmittag ging mein Experiment in die zweite Runde. Ich kam gesättigt und ausgeruht wieder an St. Clemens an. Das Kirchenportal ließ ich hinter mir und betrat einen Raum, der jetzt ganz anders aussah als vor drei Stunden noch. Die Form der sogenannten Tridentinischen Messe verlangt einen Hochaltar, an dem ein Priester ad orientem, also nach Osten in Richtung der aufgehenden Sonne — in Richtung des wiederkehrenden Herrn zelebriert. Entsprechend wurde der Volksaltar der Basilika hergerichtet. Das Altarretabel korrespondierte nun mit der grauen Kulisse im Hintergrund und zeigte beeindruckend, wie vermutlich der Altar von St. Clemens auch einmal ausgehen hat.
Die Stimmung vor der tridentinischen Messe
In der Kirche hing eine erwartungsvolle Stille. Das Alter der Gemeinde hatte sich bedeutend verjüngt. Viele junge Familien saßen oder knieten gemeinsam mit ihren Kindern im Sonntagsstaat in den Bänken. Kugeln von Rosenkränzen liefen durch mancher Finger. Andere harrten still der Dinge, die da kommen sollten. Insgesamt vier Ministranten bereiteten den Kirchraum vor, von denen zwei Jugendliche waren und zwei etwa im Studentenalter. Fünf Minuten vor Beginn der Messe verließ der Priester in aller Stille den Beichtstuhl und ging in die Sakristei. Er hatte der Gemeinde Gottes bis zum letzten Moment vor Messbeginn als Beichtvater gedient. Anscheinend erleichtert kniete sich die Dame, die zuletzt im Beichtstuhl gesessen, lächelnd in die Kirchenbank. Für den Priester war der Dienst damit natürlich nicht beendet. Er bereitete sich in der Sakristei nun auf Asperges und Messe vor.
Liturgische Gestaltung der tridentinischen Messe
Die Heilige Handlung begann ganz klassisch mit der Besprengung der Gemeinde durch den Priester mit Weihwasser. Diese erste rituelle Reinigung im Ritus des Asperges soll die gesamte Gemeinde in die Lage versetzen, sich auf den im Sakrament wiederkehrenden Christus vorzubereiten. Darin korrespondiert der Ritus etwa mit dem Weihrauch, der die Gemeinde in die Sphäre des Heiligen aufnehmen soll und der nur in dieser Messe zum Einsatz kam. Der Einzug wurde von den beiden jüngeren der vier Ministranten angeführt, die als Thuriferar das Rauchfass und das Schiffchen mit dem Weihrauch trugen, hinter ihnen folgten zwei Lichtträger mit Flambeaux. Den Einzug beschloss der Pater der Petrusbruderschaft.
Die Orgel schwieg in dieser Messe. Stattdessen sang eine Schola aus glockenklaren Frauenstimmen das gesamte Ordinarium der 11. Messe. Von bemerkenswerter tonaler Sicherheit respondierte die Gemeinde. Sodass ich hier – an vielleicht unvermuteter Stelle – erlebte, wie alle im Kirchraum an der heiligen Handlung beteiligt waren und alle genau das verwirklichten, was das Neue Testament das priesterliche Volk nennt. Während der Priester am Altar die Gebete zum Herrn sandte, sang die Gemeinde aus dem Laudate Patrem deutsche Choräle, solange es anging. Die Lesungen erfolgten zunächst auf Latein am Altar. Als der Verlauf der Feier zur Predigt voranschritt, nahm der Priester sich den Manipel ab, legte ihn ins aufgeschlagene Messbuch und trat an die Kanzel. Dort wiederholte er alle Lesungen auf deutsch.
Predigt des Paters der Petrusbruderschaft
Die Perikope der Predigt richtete sich nach einer anderen Ordnung und so hörte die Gemeinde eine Evangelienlesung zum Wunder der Brotvermehrung. Die Predigt war tatsächlich der einzige Ort, an dem die individuelle Strahlkraft der Person des Priesters aufschien. Im gesamten Rest der Feier trat seine Person wohltuend hinter dem Dienstamt zurück. Er legte in der Ansprache an die Gemeinde den Finger auf eine kaum beachtete Stelle: auf das „Wunder zwischen den Zeilen“, wie er es fein beobachtet hatte. Dass die Menschen damals Christus nämlich drei Tage lang zugehört haben. Drei lange Tage ohne zu murren und zu meutern. „Ihr würdet doch nach drei Stunden schon meutern!“, sagte er augenzwinkernd und die Gemeinde grinste hörbar. An der Universität hörte ich oft das Vorurteil, dass ein Priester entweder predigen kann oder ein guter Liturg ist. Der Pater strafte das Vorurteil Lügen. Auch er sprach ohne Manuskript, frei und aus dem offenen Herzen.
Schlaglichter der tridentinischen Messe
An die getragenen Gesänge der Gemeinde werde ich mich am längsten erinnern können. Wie mit großer Selbstverständlichkeit selbst schwierige Melismen in getragener Ruhe gesungen wurden. Die stille Anbetung, mit der die gesamte Gemeinde die Handlungen und Gebete des Priesters am Altar verfolgten, entkräfteten wieder manches Vorurteil, das aus den liturgischen Lehrbüchern einer bestimmten Generation gesprochen hatte. In meinem Kopf sehe ich, wie die Gemeinde nach und nach zur Kommunion schritt und sich in die erste Kirchenbank kniete, die man zur Kommunionbank umfunktioniert hatte. Wie auch die ältesten Gemeindeglieder, die schon lahm waren, dorthin gebracht wurden, um den Leib Christi zu empfangen.
Nach der Feier wurde der Altarraum mit geübten Handgriffen wieder abgeräumt und erschien mir, der ich noch einen Moment sitzen geblieben war, nun ärmlich und leer. Als würde dort, wo jetzt nur noch ein weißes Tuch den blanken Stein bedeckte, etwas Wichtiges fehlen.
Zwischenstand nach der dritten Messe
Vermutlich würde man erwarten, dass ich zu dieser Form am meisten schreibe. Tatsächlich kann ich zu dieser Form hier am wenigsten sagen. Es ist die schlichte Form der westkirchlichen Tradition, die im 16. Jahrhundert nach dem Konzil von Trient aus der Vielfalt westkirchlicher Riten übrig blieb. Sie ist, wenn das Konzil auch erst 1563 beschlossen wurde, auch für die protestantischen Gottesdienstformen prägend gewesen. Und hat mittlerweile, wie man am Laudate Patrem, dem neuen Gesangbuch der Petrusbruderschaft, sehen kann, selbst auch die Einflüsse der protestantischen Liederspiritualität wahrgenommen. Darin zeigt diese „erztraditionelle“ Eucharistiefeier durchaus ihre Offenheit. Zugleich belegt das junge Durchschnittsalter der Gemeinde, dass der Ritus, der in aller Stille der Heiligkeit des Herrn gerecht werden will, auch heute vor allem junge Menschen anspricht. Hier steht anscheinend ein liturgischer Generationenwechsel ins Haus des Herrn.
Es war die zweite Messe an diesem Tag, die mir Kraft gegeben hat. Dessen wurde ich mir bewusst, als ich mich auf meine Bank setzte gegenüber dem Kirchenportal. Obwohl ich für meine Verhältnisse lang in der Kirchenbank noch gesessen habe, sah ich von dort, wie erst nach und nach die Gemeinde auf den Kirchplatz heraustrat. Als einer der letzten kam der Priester, der alsbald inmitten von jungen Familien stand.
Messe der Spanischen Mission
Am späteren Nachmittag sollte das Experiment weitergehen. Denn die spanische Auslandsgemeinde feiert dort jeden Sonntag eine Eucharistiefeier in ihrer Heimatsprache. Ich, der ich kein Spanisch spreche, hatte dort also einmal die Chance zu erkunden, wie gut mich die liturgische Formensprache durch die Feier leiten würde. Denn auch die Liturgie ist eine Sprache. Man kann sie mit dem Kopf erlernen, obwohl man sie mit dem Herzen vielleicht schon versteht. Vor der Messe sah ich, dass es anscheinend ein Wochenamt für zwei Verstorbene sein würde. Zunächst dachte ich, dass es nur eine sei, weil nur ein Photo vor den Altar gestellt worden war. Aber im Verlauf der Messe hörte ich mit meinen höchst rudimentären Spanischkenntnissen heraus, dass es um zwei Damen ging, die der Herr zu sich gerufen hatte.
Liturgische Gestaltung der spanischsprachigen Messe
Auf dem Altar hatte man eine Ikone oder Photographie eines bärtigen Mannes gestellt. Ich vermutete, dass es sich um den 2002 heiliggesprochenen Pater Pio handelte. Eine Ministrantin und der Priester zogen ein und so begann die Eucharistiefeier mit dem Confiteor. Dieses ritualisierte Sündenbekenntnis wurde von allen vollständig vollzogen. Und doch muss ich gestehen, dass ich erschreckenderweise im weiteren Verlauf sehr viel weniger verstand, als zunächst gehofft. So musste ich mich darauf einstellen weniger mit den Ohren als mit dem Herzen auf das Geschehen vorne und in den Bänken zu hören. In dieser Messe sah ich die erste Gitarre des Tages, und ich sah sie auch nur hier. Das war vergleichbar dem Weihrauch, den ich nur in der tridentinischen Messe gesehen habe. Der Priester spielte sehr schwungvolle Weisen, die das Timbre der spanischen Mentalität zum Ausdruck brachten. Ich fühlte, dass dies eben die dieser Gemeinde angemessene Weise des Messgesangs war.
Resümee der Messe der spanischen Mission
Der Zusammenhalt war für die Gemeinde von besonderer Bedeutung. Das stellte sich etwa bei der Pax heraus, die sehr viel Zeit in Anspruch nahm und man auch mir sehr herzlich die Hände schüttelte, obwohl ich zum ersten Mal dort war. Die internationale Weite der römisch-katholischen Kirche und die relative Einheit ihrer nachkonziliaren liturgischen Gestaltung sind mir in dieser Messfeier besonders bewusst geworden. Ähnlich der tridentinischen Messe, bei der der Großteil der Gebete in der Stille vollzogen wird, erhielt ich auch in dieser Messe sehr viel Raum zur persönlichen Anbetung. Es war tatsächlich ungewohnt wohltuend, so wenig zu verstehen. Genauer könnte ich noch sagen: so wenig verstehen zu müssen. Es ging nicht mehr um mich und mein Verständnis und meine gedankliche Leistung. Ich war mit einem Mal bloß stiller Teil der betenden Gemeinde.
Zwischenstand nach der vierten Messe — Das Experiment im Endspurt
Nach der vierten Messe trat mir der Reichtum vor Augen, den ich über das Experiment erfahren durfte. Im Grunde genommen war ich nun einmal nach Spanien gereist und hatte dort eine Kirche besucht. Natürlich – und das sollte ich wirklich nicht verschweigen – war ich zu diesem Zeitpunkt schon sehr müde und überlegte, ob es überhaupt Sinn hätte, das Experiment noch ganz durchzuführen. Denn nach der vierten Messe hatte sich eine gewisse Sättigung eingestellt. Aber ich wollte nicht klein beigeben. Und so ließ ich die Erlebnisse des Tages Revue passieren, während ich der Sonne beim Abendlauf zusah. Zur akademischen Zeit, nämlich um 19ct (19.15 Uhr), sollte es weitergehen mit der Messe der Katholischen Hochschulgemeinde.
Gottesdienst der Katholischen Hochschulgemeinde
Als ich in Münster studierte, wohnte ich dort in der Evangelischen Studierendengemeinde (ESG) und habe aus dieser Zeit viele Erfahrungen mit Hochschulgottesdiensten gesammelt. Es ist in der Tat ein spezielles Genre der liturgischen Vielfalt. Denn diese Gottesdienste richten sich an ein spezielles akademisch-ausgebildetes Milieu und bedienen sich meist einer besonderen Sprache, die ebenfalls diesem Zusammenhang entspringt. Zugleich habe ich erwartet, dass in der Vorbereitung des Hochschulgottesdienstes die Studenten der KHG ihre persönliche Lebenswirklichkeit mit einbringen. Darum vermutete ich, dass in der KHG-Messe das meiste kreative Potenzial liegen würde, dicht gefolgt von der Spätmesse am späten Vormittag.
Liturgische Gestaltung der KHG-Messe
Die Sakristeiglocke erklang nun zum fünften Mal an diesem Tag und die Gemeinde erhob sich für den Einzug des liturgischen Dienstes. Auch beim fünften Gottesdienst des Tages war das Hauptschiff der Kirche gut gefüllt. Wie bereits vermutet, saßen vor allem Studierende und Lehrende in den Bänken. Was ich allerdings nicht erwartet hatte, war, dass der Propst, den ich am morgen im Hochamt kennengelernt hatte, den Einzug abschloss. Der Studentenpfarrer schien aus gesundheitlichen Gründen ausgefallen zu sein und so ist der Propst für ihn eingesprungen. Die Ministranten trugen Straßenkleidung. Auch das scheint zum Flair zu gehören und darin berühren sich evangelische und katholische Hochschulgottesdienste. Von der liturgischen Gestaltung her erinnerte der Hochschulgottesdienst sehr stark an das Hochamt. Da aber vermutlich der Propst und ich die einzigen beiden waren, die an beiden Feiern teilgenommen hatten, fiel das nicht weiter auf.
Ähnliches galt natürlich für die Predigt zum Sämann, deren Kerngedanken ich auch im Hochamt bereits gehört hatte. Langweilig wurde es mir aber deswegen nicht. Im Gegenteil freute ich mich schon darüber sie ein weiteres Mal zu hören. Und der Propst schaffte es, da er sie wieder extemporierte, neue Gedanken hinzuzufügen. Eine kleine Anekdote zum kürzlich heimgerufenen Erzbischof em. von Köln Joachim Kardinal Meisner möchte ich gerne hier weitererzählen. Dieser legte die verschiedenen Bodensorten, auf die der Same des Sämanns fällt, nämlich so aus, dass wir als Menschen nicht immer von gleicher Bodenbeschaffenheit seien. Wenn man es mit den schwarzen Böcken und den weißen Schafen sagen wolle, seien wir eigentlich Zebras. Da seien viele gute und viele schlechte Streifen an uns. Die müsse der Herr an uns zurecht bringen. Ein tröstliches Bild war mir das für die Erschöpfung in der späten Abendstunde.
Endstand nach der fünften Messe
Als die Orgel verklang, war das Experiment beendet. Ich war unglaublich müde. Dann fiel die gesamte Anspannung des Tages von mir ab. Am selben Tag hatte ich in der selben Kirche fünf völlig verschiedene Wege zu dem einen Herrn Jesus Christus erlebt. Das musste ich erstmal verdauen. Viele Eindrücke kamen immer wieder in mein Bewusstsein. Vom grundlegenden Muster waren alle Feiern vergleichbar. Und doch war keine eine Kopie der anderen. Selbst die Messe der KHG, die ich in etwas veränderter Form mit demselben Zelebranten ja am Vormittag schon erlebt hatte, führte wieder auf einem ganz eigenen Weg zu Christus. Die Gleichwertigkeit aller Eucharistiefeiern, die das Amt der Kirche gewährleistete, trat mir bald vor das innere Auge. Durch das Experiment hatte ich einen unglaublichen Reichtum erlebt. Obwohl es heißt, dass die römischen Messen immer dieselben wären.
Das Experiment ist beendet.
Eine allgemeine Zusammenfassung werde ich hier nicht geben können. Wie ein Schwamm habe ich an diesem Tag alle Eindrücke in mich aufgenommen. Manche lagen mir näher. Andere wiederum kamen mir fremder vor oder ließen Fragen zurück. Das Experiment hatte, wenn ich auch auf eine haarkleine Auswertung verzichte, dennoch ein eindeutiges Ergebnis. Unter dem Dach der Einen Kirche sind die Wege vielfältig, die zu Christus führen. Dies gilt für die römische Kirche als Teil der Una Sancta, wie auch für die Kirchen in ökumenischer Weite. Es ist ein schönes Bild, dass der Altar, der diese Vielfalt jeden Sonntag erlebt, direkt unter der Kuppel steht: Denn ganz im Einklang mit dem Experiment und seiner Erkenntnis verkündet ihre Inschrift: