Experiment in St. Clemens — Ein Tag im Leben einer Kirche

Es war wirk­lich ein Expe­ri­ment. Über­all wird uns heu­te eine rie­si­ge Aus­wahl offe­riert. Der Über­fluss, der dar­in zum Aus­druck kommt, ist für uns völ­lig nor­mal. Wir tes­ten, ver­glei­chen, son­dern aus. Die Gewöh­nung an indi­vi­du­el­le Wahl­mög­lich­keit hat in der Gegen­wart dazu geführt, dass vie­le lit­ur­gi­sche For­men gleich­wer­tig neben­ein­an­der zuste­hen kom­men. In der Props­tei­kir­che St. Cle­mens in Han­no­ver gibt es zum Bei­spiel jeden Sonn­tag fünf Mes­sen, die von unter­schied­li­chen Gemein­schaf­ten gefei­ert wer­den. Jede und jeder kann sich also die­je­ni­ge Fei­er her­aus­pi­cken, die er oder sie ger­ne fei­ern möchte.

Das Kir­chen­ge­bäu­de aber erlebt jeden Sonn­tag alle fünf Eucha­ris­tie­fei­ern. Einen Tag im Leben die­ser Kir­che in Gän­ze mit­zu­er­le­ben, war das erklär­te Ziel mei­nes Expe­ri­ments. Des­we­gen war der Lit­ur­gie­fuchs an einem Sonn­tag Besu­cher aller fünf Mes­sen. Und den Reich­tum, den ich dort erleb­te, stel­le ich Euch heu­te vor!

Kirchenfront von St. Clemens, Hannover — Experiment

St. Clemens in Hannover

Mit­ten in Han­no­ver, links der Lei­ne, rechts der Ihme, über­ragt in der Calen­ber­ger Neu­stadt eine Kup­pel alle Häu­ser. Als das Zen­trum römisch-katho­li­schen Gemein­de­le­bens steht dort die Props­tei­kir­che St. Cle­mens. Sie ist rela­tiv jung. Gera­de ein­mal vor knapp 300 Jah­ren geweiht, ist sie Beweis für Han­no­vers wech­sel­vol­le kon­fes­sio­nel­le Geschich­te. Sie hat die Geschich­te der Stadt mit­ge­prägt und mit­er­lebt. Im zwei­ten Welt­krieg völ­lig aus­ge­bombt, muss­te St. Cle­mens danach wie­der auf­ge­baut wer­den. Heu­te zeigt sie sich des­we­gen von außen in einem Kleid alter ita­lie­ni­scher Archi­tek­tur und von innen trägt sie die kar­ge, fast schon bit­te­re deut­sche Nach­kriegs­spi­ri­tua­li­tät auf. Ihre hohe vom Kreuz gekrön­te Kup­pel grüß­te mich auf mei­nem all­mor­gend­li­chen Weg zum Archiv. Ich war sehr gespannt, was ich an die­sem Sonn­tag bei mei­nem Expe­ri­ment alles erle­ben würde.

Kirchenbank in St. Clemens, Hannover — Experiment

Alle versammelt um den einen Altar

Die Sta­tu­en der zwölf Apos­tel sind mar­kant um den Volks­al­tar der Basi­li­ka her­um­grup­piert. Sie sind stein­ge­wor­de­nes Zeug­nis für die ers­ten Men­schen, die in der Nach­fol­ge Chris­ti leb­ten. Wie sie damals den Herrn Jesus Chris­tus umga­ben, so bli­cken sie heu­te alle in die Vie­rung. Sie sind alle ver­sam­melt um den einen Altar. Genau­so wür­den es die fünf Gemein­schaf­ten sein. Um 10 Uhr fei­er­ten Gemein­de und Propst das Hoch­amt. Dar­an anschlie­ßend führ­te um 11.30 Uhr ein Jesui­ten­pa­ter durch die soge­nann­te Initia­ti­ve Spät­mes­se der Gemein­de „Hl. Johan­nes XXIII.“. Nach die­sen bei­den Eucha­ris­tie­fei­ern hat­te ich ein wenig Mit­tags­pau­se und konn­te mich erho­len. Die Erho­lung zwi­schen den Mes­sen, des­sen war ich mir im Vor­hin­ein bewusst, war von zen­tra­ler Bedeu­tung, um einen kla­ren Blick zu behalten.

Die zwei­te Hälf­te des Tages begann für mich um 15.30 Uhr. Da fei­er­te die Gemein­de ein latei­ni­sches Hoch­amt in der for­ma extra­or­di­na­ria, bei dem ein Pater der Pries­ter­bru­der­schaft St. Petrus (FSSP) zele­brier­te. Die Mes­se der spa­ni­schen Mis­si­on danach führ­te mir die inter­na­tio­na­le Wei­te der Römi­schen Kir­che vor Augen. Und der Hoch­schul­got­tes­dienst der Katho­li­schen Hoch­schul­ge­mein­de (KHG) beschloß den Tag. So sah der Ver­suchs­ab­lauf mei­nes Expe­ri­ments aus. Doch viel­leicht ver­lie­re ich zuerst ein paar Wor­te zum Versuchsaufbau.

Trias von Apostelstatuen in St. Clemens, Hannover — Experiment

Der Versuchsaufbau des Experiments

Aus­ge­rüs­tet war ich mit mei­ner Kame­ra, mei­nem blau­en Notiz­buch und einem Blei­stift. Da die Kir­che nie­mals Ver­suchs­ge­län­de sein darf und ich mich inso­fern mit jedem mei­ner Bei­trä­ge für liturgica.org auf Mes­sers­schnei­de bewe­ge, neh­me ich den Groß­teil der Pho­to­gra­phien immer im Vor­hin­ein auf. Nach mei­nem eige­nen Anspruch soll näm­lich nie­mand durch den Lit­ur­gie­fuchs gestört wer­den. Die­ser Gedan­ke ist mir uner­träg­lich und prägt daher jede mei­ner Recher­chen. Ich kaschie­re etwa das Kla­ckern des Spie­gels mei­ner Kame­ra mit den Tönen der Orgel. Auch Noti­zen wäh­rend der Hei­li­gen Hand­lung ver­su­che ich wei­test­ge­hend zu ver­mei­den. So saß ich auf der Evan­ge­li­en­sei­te des Haupt­schiffs und hat­te von dort einen guten Blick auf den Altar­raum. Das Expe­ri­ment konn­te beginnen!

Altar vor dem Hochamt in St. Clemens, Hannover — Experiment

Der Altarraum

Der Altar­raum von St. Cle­mens hat eine selt­sa­me Struk­tur. Dem Geist des zwei­ten Vati­ka­nums fol­gend ist der Volks­al­tar gänz­lich umschreit­bar. Sein Ort in der Vie­rung unter der hohen Kup­pel kor­re­spon­diert ganz har­mo­nisch mit der Form der Basi­li­ka. Das alte Altarr­e­ta­bel aller­dings, wo immer noch die sechs Ker­zen­leuch­ter der Tra­di­ti­on, die heu­te erlo­schen blei­ben, und ein Cru­ci­fi­xus ste­hen, ist vom Altar abge­rückt und scheint dar­an zu erin­nern, dass die­se Auf­tei­lung des Kirch­raums ver­mut­lich nicht die ursprüng­li­che war. An der Front des Altars ist das Reli­qui­en­grab in Glas gefasst und so für die Gläu­bi­gen sicht­bar. Drei eiser­ne Ker­zen­stän­der, deren Ker­zen zur Eucha­ris­tie­fei­er ent­zün­det wer­den, sind ihm zur Sei­te gestellt. Auf der Epis­tel­sei­te des Altars steht die Kan­zel, an der die Fro­he Bot­schaft ver­kün­det wird. An die graue Kulis­se mit Kreuz und Leuch­tern, die unmo­ti­viert den Spiel­tisch der Orgel hin­ter sich ver­birgt, konn­te ich mich den gan­zen Tag nicht recht gewöhnen.

Zweite Aposteltrias in St. Clemens, Hannover — Experiment

Das Hochamt mit dem Propst

Das Expe­ri­ment begann für mich also mit dem Hoch­amt. Als ich die Kir­che durch das Haupt­por­tal betrat, hör­te ich schon geschäf­ti­ges Trei­ben. Denn die Kir­che war bereits um vier­tel vor 10 gut besucht und füll­te sich bis zum Beginn der Mes­se noch­mal deut­lich an. Das stei­ger­te natür­lich mei­ne Vor­freu­de. Die Gemein­de war sehr gesund durch­mischt. Von den Alten im Roll­stuhl bis hin zu zwei Klein­kin­dern in ihren Kin­der­wä­gen war jede Alters­schicht ver­tre­ten. Der Altar war mit einer Decke beklei­det, aber sonst leer. Auf einer Kre­denz anbei waren die vasa sacra für die Eucha­ris­tie bereits gerich­tet. Schließ­lich began­nen um kurz vor 10 die Glo­cken der Basi­li­ka zu läu­ten und kün­de­ten vom bal­di­gen Beginn der hei­li­gen Handlung.

Predigt des Propst im Hochamt St. Clemens, Hannover — Experiment

Liturgische Gestaltung des Hochamts

Als die Glo­cken ver­klan­gen, betrat eine Dame die Kan­zel, die die Gemein­de begrüß­te. Die Situa­ti­on kam mir vor wie der Wer­be­spot vor der Tages­schau. Alle war­ten gebannt, aber dann muss noch­mal Wer­bung ein­ge­blen­det wer­den. Man tole­riert das still. Die Sakristeiglo­cke signa­li­sier­te den Ein­zug. Vier Minis­tran­ten und eine Lek­to­rin führ­ten die Pro­zes­si­on an, die durch den Propst im Mess­ge­wand mit moder­ner grü­ner Casel beschlos­sen wur­de. Ich genoss die ruhi­ge und über­aus auf­merk­sa­me Art des Pries­ters, die ange­nehm von sich selbst weg hin auf Chris­tus ver­wies. Gera­de in der Pre­digt, die er frei hielt, beein­druck­te er mit einem fei­nen Gespür für Spra­che und einer gro­ßen men­schen­freund­li­chen Wär­me, die aus sei­nen Wor­ten sprach.

Eucharistiegebet Hochamt St. Clemens, Hannover — Experiment

Als die Fei­er zu ihrem Höhe­punkt vor­an­schritt, stand die Dame, die uns begrüßt hat­te, auf und ging gesenk­ten Bli­ckes zum Taber­na­kel. Sie muss­te sich in der Zwi­schen­zeit einen wei­ßen Schal umge­legt haben. Bei der Begrü­ßung war er mir nicht auf­ge­fal­len. Am Taber­na­kel ange­kom­men ent­nahm sie das Aller­hei­ligs­te und brach­te es zum Altar. Es folg­ten Gebe­te und die hei­li­ge Kom­mu­ni­on der Gemein­de. Irri­tiert dach­te ich noch, das wird nicht als Poli­ti­kum gemeint sein, als sie nach ihrem Dienst – das Zibo­ri­um hat­te sie treu wie­der ver­staut – zurück in die Bank trat. Immer­hin ist es gera­de in Kir­chen oft etwas küh­ler. Doch bevor sie sich setz­te, nahm sie sich den Schal ab, den sie wie eine Sto­la über­ge­wor­fen hat­te, und fal­te­te ihn bedäch­tig zwei­mal zusam­men. Anschei­nend ver­stand sie ihn als Teil ihres Diens­tes am Altar.

Weitwinkel Totale Kirche St. Clemens, Hannover — Experiment

Zwischenstand nach der ersten Messe — Das Experiment hat begonnen

Nach dem Hoch­amt setz­te ich mich auf die Bank gegen­über des Haupt­por­tals und ließ die Fei­er noch ein­mal Revue pas­sie­ren. Lang­sam kamen nach und nach die Gemein­de­glie­der aus der Basi­li­ka her­aus. Von der geist­li­chen Tie­fe des Props­tes war ich immer noch ganz gefan­gen. Dass ich mich heu­te immer noch so gut an die­se Eucha­ris­tie­fei­er erin­ne­re, hät­te ich an dem Tag nicht gedacht. Im Gegen­teil hat­te ich Sor­ge, dass ich die Got­tes­diens­te hier auf liturgica.org nicht wür­de wür­di­gen kön­nen. Doch die­se Sor­ge war unbe­grün­det. Denn ich höre den Kan­to­ren noch psal­mo­die­ren, die Lek­to­rin lesen und den Pries­ter beten. In einem Satz gespro­chen war die lit­ur­gi­sche Gestal­tung von einer gro­ßen Glaub­wür­dig­keit geprägt und man spür­te, das ein gro­ßer Segen auf die­ser Gemein­de liegt.

Als mei­ne Gedan­ken so her­um­streif­ten, fiel mein Blick auf eine klei­ne Grup­pe, die sich etwas abseits der Got­tes­dienst­ge­mein­de getrof­fen hat­te. An den Revers der Anzü­ge von zwei­en schim­mer­ten sil­ber­ne Kreu­ze, ob das wohl die Jesui­ten­pa­tres sein wür­den? Die Spät­mes­se soll­te ja bald schon begin­nen. Das, was am Hoch­amt wirk­lich beson­ders war, soll­te mir erst im Ver­lauf des Tages wirk­lich vor Augen treten.

Kreuz mit 6 Leuchtern — Experiment

Die Initiative Spätmesse

Die Got­tes­diens­te der Gemein­de Hl. Johan­nes XXIII. „möchte[n] nicht nur Got­tes­dienst­be­su­che­rIn­nen im übli­chen Sin­ne anspre­chen. Son­dern sie [sc. die Gemein­de Hl. Johan­nes XXIII., Anm. d. Lit­ur­gie­fuchs] gestal­tet die Got­tes­diens­te auch für Men­schen, die in der Regi­on zu Gast sind oder die kei­ne Bin­dung mehr an Kir­chen­ge­mein­den haben. The­ma­tisch wer­den auch aktu­el­le und drän­gen­de Mensch­heits­pro­ble­me ein­be­zo­gen. Die Eucha­ris­tie­fei­ern, die abwech­selnd von sechs Pries­tern gehal­ten wer­den, möch­ten außer­dem Raum für Besinn­lich­keit und Medi­ta­ti­on geben.“ Die­se Selbst­be­schrei­bung fin­det man auf der Sei­te der Initia­ti­ve Spät­mes­se. Wenn ich das lese, fal­len mir direkt ver­schie­de­ne Din­ge auf.

Apostelstatue Matthäus in St. Clemens, Hannover — Reichtum

Vorerwartung zur Spätmesse

Weil dies eine moder­ne Got­tes­dienst­form ist, die ver­sucht, sich von klas­si­schen For­men abzu­he­ben, will ich ein paar Schlag­lich­ter auf die Selbst­be­schrei­bung wer­fen. Hier ver­sucht man Men­schen anzu­spre­chen, die mit Kir­che nicht so viel anfan­gen kön­nen. Wenn die­se zur Spät­mes­se kom­men, sol­len sie eine Umge­bung vor­fin­den, die sie von drau­ßen ken­nen. Die Fra­gen des All­tags sol­len hier zur Spra­che kom­men. Und dazu bedient man sich der Spra­che des All­tags. Etwa steckt schon im Begriff Got­tes­dienst­be­su­che­rIn­nen ein ande­rer Geist als im tra­di­tio­nel­len Gemein­debegriff. Das eine bringt Zusam­men­halt, gestif­tet durch den gemein­sa­men Glau­ben an Chris­tus zum Aus­druck. Das ande­re meint eher eine zufäl­lig zusam­men­ge­setz­te Grö­ße von Men­schen, die heu­te mal zum Got­tes­dienst kom­men. Wohin­ge­gen sie mor­gen viel­leicht ins Kino gehen.

Die Men­schen sol­len hier nicht im übli­chen Sin­ne ange­spro­chen wer­den. Das bleibt natür­lich ganz blass for­mu­liert. So genau kann ich mir unter dem übli­chen Sinn nichts vor­stel­len. Der übli­che Sinn, den ich dem Got­tes­dienst bei­mes­se, ist für gewöhn­lich, dass er mich von mir weg hin zu Chris­tus füh­ren soll. Ich möch­te durch die Eucha­ris­tie­fei­er in Berüh­rung mit dem Allein­hei­li­gen kom­men. Und ich wage sogar zu glau­ben, dass das auch ande­ren Men­schen so geht: gera­de den Kir­chen­fer­nen. Die­se wür­den bestimmt nicht mei­ne Wor­te wäh­len, aber ich glau­be das Emp­fin­den und die Sehn­sucht nach dem, was ich mir selbst weder geben noch kau­fen kann, die tei­le ich mit vie­len Men­schen. Mal sehen, wel­che For­men bei der Spät­mes­se Ver­wen­dung finden!

Collecta Spätmesse in St. Clemens, Hannover — Experiment

Liturgische Gestaltung der Spätmesse

Die Kir­che war ein wei­te­res Mal gut gefüllt. Aller­dings waren nun wesent­lich mehr und vor­nehm­lich älte­re Men­schen gekom­men. Ich schätz­te ihre Lebens­si­tua­ti­on so unge­fähr auf den Ren­ten­ein­tritt und älter. Da erklang die Sakristeiglo­cke zum zwei­ten Mal und ein­sam zog ein ein­zel­ner, ergrau­ter Pries­ter ein. Hat­ten die Mess­die­ner ihn im Stich gelas­sen? Er tat mir direkt ein wenig leid, aber bald wur­de mir klar, dass das eine bewuss­te Gestal­tungs­ent­schei­dung war. Denn ein ande­rer Jesui­ten­pa­ter in zivil (ich erkann­te ihn am Kreuz an sei­nem Revers) hat­te die Got­tes­dienst­be­su­che­rIn­nen im vor­hin­ein begrüßt. Die zwei­te Wer­be­pau­se an die­sem Tag. War­um er aller­dings nicht am Altar dien­te, habe ich nicht ver­stan­den. Anschei­nend war er gra­de „nicht dran“. So stand der Pries­ter ganz allein im Altar­raum. Und dann begann die Spät­mes­se für mich mit einem kräf­ti­gen Holpern.

Der Frie­dens­gruß in der tri­ni­ta­ri­schen Form eröff­ne­te näm­lich die Fei­er: „Die Gna­de unse­res Herrn Jesu Chris­ti, die Lie­be Got­tes des müt­ter­li­chen Vaters und die Koi­no­nia des hei­li­gen Geis­tes […] sei mit uns allen.“, hör­te ich ihn sagen. Soll­ten nicht Fra­gen des All­tags bespro­chen wer­den und Kir­chen­fer­ne einen Ort haben? Ist die­se para­dox-sexu­el­le Abwand­lung leich­ter zu ver­ste­hen als das ursprüng­li­che? Kön­nen Väter nicht mit Her­zens­wär­me lie­ben? Wenn man in die­sen ver­kopf­ten Kate­go­rien den­ken möch­te, kann man über­le­gen auf das Got­tes­prä­di­kat Vater in der Pre­digt ein­zu­ge­hen. Viel­leicht – den Gedan­ken will ich nur mal in den Raum stel­len – fokus­siert die schma­le Lin­se der Gen­der­spra­che etwas zu stark für lit­ur­gi­sche Spra­che und lässt not­wen­dig wei­te Tei­le unse­rer all­täg­li­chen Lebens­wirk­lich­keit außer Acht. Auch konn­te ich mir nicht vor­stel­len, dass die kir­chen­fer­nen Men­schen mit Koi­no­nia des Hei­li­gen Geis­tes mehr anfan­gen kön­nen als mit dem deut­schen Wort Gemein­schaft.

Apostelstatue Johannes in St. Clemens, Hannover — Reichtum

Der Priester als Zentrum in der Spätmesse

Bald schon fiel mir auf, dass der Pries­ter ganz bewusst allein dort stand. Er bete­te, er sang vor, er las, er pre­dig­te, er zele­brier­te. Und so ver­ein­te er alle mög­li­chen ursprüng­lich auf die Viel­falt mensch­li­chen Daseins aus­ge­leg­ten Auf­ga­ben der Lit­ur­gie in sei­ner Per­son. Die Gemein­de wur­de zum Publi­kum, zu Got­tes­dienst­be­su­che­rIn­nen. Wie es auch Kino­be­su­che­rIn­nen oder Kon­zert­be­su­che­rIn­nen gibt. Dem Kino­be­trei­ber ist es näm­lich egal, wer da sitzt. Haupt­sa­che das Geld in den Kas­ten springt. Dem lie­ben­den Gott sind wir aber nicht egal. Eigent­lich sol­len dar­um vie­le Men­schen gemein­sam den Got­tes­dienst fei­ern. Nach den Gaben, die Gott schenkt. Ich ver­mu­te, der Pries­ter tat dies mit der Begrün­dung, dass es so doch „ein­fa­cher“ oder „schlich­ter“ sei. Die Fol­ge die­ser Ent­schei­dung ist natür­lich, dass der Pries­ter zum alles­ent­schei­den­den Zen­trum wird. An ihm hängt dann alles. Ohne ihn geht nichts. Tra­di­tio­nel­ler­wei­se nen­nen wir die­ses Phä­no­men dann Kle­ri­ka­lis­mus.

Offertorium Spätmesse in St. Clemens, Hannover — Experiment

Die Predigt der Spätmesse

Als die Fei­er zur Pre­digt vor­an­schritt, war ich beson­ders gespannt. Wel­che moder­nen Begrif­fe wür­de der Pries­ter ver­wen­den? Chris­ti Gleich­nis vom Sämann ist ja ein dank­ba­rer und wun­der­bar plas­ti­scher Text. „Kann man die­ses Evan­ge­li­um heu­te noch sagen?“ Das war die wenig inno­va­ti­ve Fra­ge, die der Jesu­it in den Raum stell­te. Ich möch­te ein­mal dage­gen fra­gen: „Wird die Zeit kom­men, in der Men­schen die Hei­li­ge Schrift abschaf­fen?“ Denn das wäre ja nun die Kon­se­quenz, wenn er auf sei­ne Fra­ge kei­ne ande­re Ant­wort als Nein fin­det. Der Pries­ter kam zu einem ers­ten Zwi­schen­stand: „Eigent­lich kann man sie [sc. das Gleich­nis vom Sämann, Anm. d. Lit­ur­gie­fuchs] ver­ste­hen, wenn man will.“ Der klei­ne unschein­ba­re Nach­satz ist das ent­schei­den­de. Denn damit war ganz klar for­mu­liert, dass es an der Ent­schei­dung des Men­schen hängt. Man muss die Geschich­te eben ver­ste­hen wol­len. Und im Duk­tus des Gleich­nis­ses muss­te ich dann schluss­fol­gern, wer das also nicht will, ist verloren.

Ver­mut­lich kam die Gemein­de auf ein ähn­li­ches Ergeb­nis, denn mit einem mal zischel­ten Zwi­schen­be­mer­kun­gen aus den Rei­hen um mich her. Mit „Unter­stel­lung!“ quit­tier­te eine Got­tes­dienst­be­su­che­rIn hin­ter mir gif­tig die Aus­sa­ge, dass ein nor­ma­ler Mensch das Wort Got­tes, als das der Jesu­it den Samen des Gleich­nis deu­te­te, eben nicht in sich hin­ein­fal­len las­sen will. „Eigen­wer­bung!“ schimpf­te jemand von links, als der Pries­ter von sei­ner Gabe zu schrei­ben sprach und ankün­dig­te, dass wie­der ein neu­es Buch erschei­nen wird. Schlu­cken muss­te ich aber wegen einer ande­ren Anek­do­te des Jesui­ten von einem Ster­ben­den im Kran­ken­haus, dem er – anschei­nend im Sin­ne der Ster­be­sa­kra­men­te – ange­bo­ten hat­te, „über das Leben zu reden“. Dies habe der Ster­ben­de beant­wor­tet „Nein erst­mal muss ich hier her­aus.“ Pries­ter: „Ja, das war dann im Fege­feu­er. [Erg. wo er über sein Leben nach­den­ken konn­te, Anm. d. Lit­ur­gie­fuchs]“ Woll­te man nicht die Kir­chen­fer­nen anspre­chen? Es gibt sicher glück­li­che­re und wer­ben­de­re Zugän­ge als das Purgatorium.

Kirchenportal St. Clemens, Hannover — Experiment

Zwischenstand nach der zweiten Messe — das Experiment geht weiter

Nach der zwei­ten Mes­se war ich froh, ein paar Stun­den Mit­tags­pau­se zu haben. Die spon­ta­nen Für­bit­ten, bei denen der Pries­ter, der uns begrüß­te, in zivil mit Mikro­phon durch die Kir­che lief, um die Gebets­an­lie­gen zu sam­meln, habe ich mehr oder weni­ger über mich erge­hen las­sen. Dass Gott im Eucha­ris­tie­teil auf­ge­for­dert wur­de „Herr schau auf unse­re Sün­den“, wo Er sonst demü­tig gebe­ten wird, die Sün­den gnä­dig außer Acht zu las­sen und statt­des­sen auf den Glau­ben sei­ner Kir­che zu schau­en, und dass von Maria als der Jun­gEN Frau gespro­chen wur­de — all das waren Früch­te der nach­kon­zi­lia­ren Bewe­gung im Rom­ka­tho­li­zis­mus. Im Neu­en Tes­ta­ment heißt es an einer Stel­le „Prüfet alles, das Gute behal­tet.“ Ich bin sehr gespannt, ob die Fra­gen der 68er-Gene­ra­ti­on für die Zukunft von Belang sein werden.

Lit­ur­gie­his­to­risch war die Spät­mes­se für mein Expe­ri­ment auf jeden Fall ein gro­ßer Gewinn. Denn sie zeig­te in Rein­form die Fra­gen und die Gestal­tungs­ent­schei­dun­gen einer bestimm­ten Gene­ra­ti­on auf. Die bewuss­te Abkehr von der lit­ur­gi­schen Viel­falt hin zur Ein­falt, könn­te man sagen. Der größ­te Sprung im Ver­lauf des Tages stand mir jetzt bevor. Des­sen war ich mir auf dem Rück­weg in mein Domi­zil sehr bewusst. Denn die mis­sa can­ta­ta, das latei­ni­sche Hoch­amt der Petrus­bru­der­schaft, wäre in den Augen der Gemein­de Johan­nes XXIII. das Para­de­bei­spiel für alles ihnen Widerstreitende.

Statue des Apostels Simon Petrus in St. Clemens, Hannover — Experiment

Das Lateinische Hochamt der Petrusbruderschaft

Am Nach­mit­tag ging mein Expe­ri­ment in die zwei­te Run­de. Ich kam gesät­tigt und aus­ge­ruht wie­der an St. Cle­mens an. Das Kir­chen­por­tal ließ ich hin­ter mir und betrat einen Raum, der jetzt ganz anders aus­sah als vor drei Stun­den noch. Die Form der soge­nann­ten Triden­ti­ni­schen Mes­se ver­langt einen Hoch­al­tar, an dem ein Pries­ter ad ori­en­tem, also nach Osten in Rich­tung der auf­ge­hen­den Son­ne — in Rich­tung des wie­der­keh­ren­den Herrn zele­briert. Ent­spre­chend wur­de der Volks­al­tar der Basi­li­ka her­ge­rich­tet. Das Altarr­e­ta­bel kor­re­spon­dier­te nun mit der grau­en Kulis­se im Hin­ter­grund und zeig­te beein­dru­ckend, wie ver­mut­lich der Altar von St. Cle­mens auch ein­mal aus­ge­hen hat.

Altar vor der Tridentinischen Messe, St. Clemens, Hannover — Experiment

Die Stimmung vor der tridentinischen Messe

In der Kir­che hing eine erwar­tungs­vol­le Stil­le. Das Alter der Gemein­de hat­te sich bedeu­tend ver­jüngt. Vie­le jun­ge Fami­li­en saßen oder knie­ten gemein­sam mit ihren Kin­dern im Sonn­tags­staat in den Bän­ken. Kugeln von Rosen­krän­zen lie­fen durch man­cher Fin­ger. Ande­re harr­ten still der Din­ge, die da kom­men soll­ten. Ins­ge­samt vier Minis­tran­ten berei­te­ten den Kirch­raum vor, von denen zwei Jugend­li­che waren und zwei etwa im Stu­den­ten­al­ter. Fünf Minu­ten vor Beginn der Mes­se ver­ließ der Pries­ter in aller Stil­le den Beicht­stuhl und ging in die Sakris­tei. Er hat­te der Gemein­de Got­tes bis zum letz­ten Moment vor Mess­be­ginn als Beicht­va­ter gedient. Anschei­nend erleich­tert knie­te sich die Dame, die zuletzt im Beicht­stuhl geses­sen, lächelnd in die Kir­chen­bank. Für den Pries­ter war der Dienst damit natür­lich nicht been­det. Er berei­te­te sich in der Sakris­tei nun auf Asper­ges und Mes­se vor.

Verkündigung Evangelium Tridentinische Messe in St. Clemens, Hannover — Experiment

Liturgische Gestaltung der tridentinischen Messe

Die Hei­li­ge Hand­lung begann ganz klas­sisch mit der Bespren­gung der Gemein­de durch den Pries­ter mit Weih­was­ser. Die­se ers­te ritu­el­le Rei­ni­gung im Ritus des Asper­ges soll die gesam­te Gemein­de in die Lage ver­set­zen, sich auf den im Sakra­ment wie­der­keh­ren­den Chris­tus vor­zu­be­rei­ten. Dar­in kor­re­spon­diert der Ritus etwa mit dem Weih­rauch, der die Gemein­de in die Sphä­re des Hei­li­gen auf­neh­men soll und der nur in die­ser Mes­se zum Ein­satz kam. Der Ein­zug wur­de von den bei­den jün­ge­ren der vier Minis­tran­ten ange­führt, die als Thu­rif­erar das Rauch­fass und das Schiff­chen mit dem Weih­rauch tru­gen, hin­ter ihnen folg­ten zwei Licht­trä­ger mit Flam­beaux. Den Ein­zug beschloss der Pater der Petrus­bru­der­schaft.

Die Orgel schwieg in die­ser Mes­se. Statt­des­sen sang eine Scho­la aus glo­cken­kla­ren Frau­en­stim­men das gesam­te Ordi­na­ri­um der 11. Mes­se. Von bemer­kens­wer­ter tona­ler Sicher­heit respon­dier­te die Gemein­de. Sodass ich hier – an viel­leicht unver­mu­te­ter Stel­le – erleb­te, wie alle im Kirch­raum an der hei­li­gen Hand­lung betei­ligt waren und alle genau das ver­wirk­lich­ten, was das Neue Tes­ta­ment das pries­ter­li­che Volk nennt. Wäh­rend der Pries­ter am Altar die Gebe­te zum Herrn sand­te, sang die Gemein­de aus dem Lau­da­te Patrem deut­sche Cho­rä­le, solan­ge es anging. Die Lesun­gen erfolg­ten zunächst auf Latein am Altar. Als der Ver­lauf der Fei­er zur Pre­digt vor­an­schritt, nahm der Pries­ter sich den Mani­pel ab, leg­te ihn ins auf­ge­schla­ge­ne Mess­buch und trat an die Kan­zel. Dort wie­der­hol­te er alle Lesun­gen auf deutsch.

Tabernakel in St. Clemens, Hannover — Experiment

Predigt des Paters der Petrusbruderschaft

Die Peri­ko­pe der Pre­digt rich­te­te sich nach einer ande­ren Ord­nung und so hör­te die Gemein­de eine Evan­ge­li­en­le­sung zum Wun­der der Brot­ver­meh­rung. Die Pre­digt war tat­säch­lich der ein­zi­ge Ort, an dem die indi­vi­du­el­le Strahl­kraft der Per­son des Pries­ters auf­schien. Im gesam­ten Rest der Fei­er trat sei­ne Per­son wohl­tu­end hin­ter dem Dienst­amt zurück. Er leg­te in der Anspra­che an die Gemein­de den Fin­ger auf eine kaum beach­te­te Stel­le: auf das „Wun­der zwi­schen den Zei­len“, wie er es fein beob­ach­tet hat­te. Dass die Men­schen damals Chris­tus näm­lich drei Tage lang zuge­hört haben. Drei lan­ge Tage ohne zu mur­ren und zu meu­tern. „Ihr wür­det doch nach drei Stun­den schon meu­tern!“, sag­te er augen­zwin­kernd und die Gemein­de grins­te hör­bar. An der Uni­ver­si­tät hör­te ich oft das Vor­ur­teil, dass ein Pries­ter ent­we­der pre­di­gen kann oder ein guter Lit­urg ist. Der Pater straf­te das Vor­ur­teil Lügen. Auch er sprach ohne Manu­skript, frei und aus dem offe­nen Herzen.

Madonna in St. Clemens, Hannover — Experiment

Schlaglichter der tridentinischen Messe

An die getra­ge­nen Gesän­ge der Gemein­de wer­de ich mich am längs­ten erin­nern kön­nen. Wie mit gro­ßer Selbst­ver­ständ­lich­keit selbst schwie­ri­ge Melis­men in getra­ge­ner Ruhe gesun­gen wur­den. Die stil­le Anbe­tung, mit der die gesam­te Gemein­de die Hand­lun­gen und Gebe­te des Pries­ters am Altar ver­folg­ten, ent­kräf­te­ten wie­der man­ches Vor­ur­teil, das aus den lit­ur­gi­schen Lehr­bü­chern einer bestimm­ten Gene­ra­ti­on gespro­chen hat­te. In mei­nem Kopf sehe ich, wie die Gemein­de nach und nach zur Kom­mu­ni­on schritt und sich in die ers­te Kir­chen­bank knie­te, die man zur Kom­mu­ni­on­bank umfunk­tio­niert hat­te. Wie auch die ältes­ten Gemein­de­glie­der, die schon lahm waren, dort­hin gebracht wur­den, um den Leib Chris­ti zu empfangen.

Nach der Fei­er wur­de der Altar­raum mit geüb­ten Hand­grif­fen wie­der abge­räumt und erschien mir, der ich noch einen Moment sit­zen geblie­ben war, nun ärm­lich und leer. Als wür­de dort, wo jetzt nur noch ein wei­ßes Tuch den blan­ken Stein bedeck­te, etwas Wich­ti­ges fehlen.

Priester inmitten junger Familien nach Messe, St. Clemens, Hannover — Experiment

Zwischenstand nach der dritten Messe

Ver­mut­lich wür­de man erwar­ten, dass ich zu die­ser Form am meis­ten schrei­be. Tat­säch­lich kann ich zu die­ser Form hier am wenigs­ten sagen. Es ist die schlich­te Form der west­kirch­li­chen Tra­di­ti­on, die im 16. Jahr­hun­dert nach dem Kon­zil von Tri­ent aus der Viel­falt west­kirch­li­cher Riten übrig blieb. Sie ist, wenn das Kon­zil auch erst 1563 beschlos­sen wur­de, auch für die pro­tes­tan­ti­schen Got­tes­dienst­for­men prä­gend gewe­sen. Und hat mitt­ler­wei­le, wie man am Lau­da­te Patrem, dem neu­en Gesang­buch der Petrus­bru­der­schaft, sehen kann, selbst auch die Ein­flüs­se der pro­tes­tan­ti­schen Lie­der­spi­ri­tua­li­tät wahr­ge­nom­men. Dar­in zeigt die­se „erz­tra­di­tio­nel­le“ Eucha­ris­tie­fei­er durch­aus ihre Offen­heit. Zugleich belegt das jun­ge Durch­schnitts­al­ter der Gemein­de, dass der Ritus, der in aller Stil­le der Hei­lig­keit des Herrn gerecht wer­den will, auch heu­te vor allem jun­ge Men­schen anspricht. Hier steht anschei­nend ein lit­ur­gi­scher Gene­ra­tio­nen­wech­sel ins Haus des Herrn.

Es war die zwei­te Mes­se an die­sem Tag, die mir Kraft gege­ben hat. Des­sen wur­de ich mir bewusst, als ich mich auf mei­ne Bank setz­te gegen­über dem Kir­chen­por­tal. Obwohl ich für mei­ne Ver­hält­nis­se lang in der Kir­chen­bank noch geses­sen habe, sah ich von dort, wie erst nach und nach die Gemein­de auf den Kirch­platz her­aus­trat. Als einer der letz­ten kam der Pries­ter, der als­bald inmit­ten von jun­gen Fami­li­en stand.

Clemens und Engelstatue in St. Clemens, Hannover — Experiment

Messe der Spanischen Mission

Am spä­te­ren Nach­mit­tag soll­te das Expe­ri­ment wei­ter­ge­hen. Denn die spa­ni­sche Aus­lands­ge­mein­de fei­ert dort jeden Sonn­tag eine Eucha­ris­tie­fei­er in ihrer Hei­mat­spra­che. Ich, der ich kein Spa­nisch spre­che, hat­te dort also ein­mal die Chan­ce zu erkun­den, wie gut mich die lit­ur­gi­sche For­men­spra­che durch die Fei­er lei­ten wür­de. Denn auch die Lit­ur­gie ist eine Spra­che. Man kann sie mit dem Kopf erler­nen, obwohl man sie mit dem Her­zen viel­leicht schon ver­steht. Vor der Mes­se sah ich, dass es anschei­nend ein Wochen­amt für zwei Ver­stor­be­ne sein wür­de. Zunächst dach­te ich, dass es nur eine sei, weil nur ein Pho­to vor den Altar gestellt wor­den war. Aber im Ver­lauf der Mes­se hör­te ich mit mei­nen höchst rudi­men­tä­ren Spa­nisch­kennt­nis­sen her­aus, dass es um zwei Damen ging, die der Herr zu sich geru­fen hatte.

Messe der spanischen Mission in St. Clemens, Hannover — Experiment

Liturgische Gestaltung der spanischsprachigen Messe

Auf dem Altar hat­te man eine Iko­ne oder Pho­to­gra­phie eines bär­ti­gen Man­nes gestellt. Ich ver­mu­te­te, dass es sich um den 2002 hei­lig­ge­spro­che­nen Pater Pio han­del­te. Eine Minis­tran­tin und der Pries­ter zogen ein und so begann die Eucha­ris­tie­fei­er mit dem Con­fi­teor. Die­ses ritua­li­sier­te Sün­den­be­kennt­nis wur­de von allen voll­stän­dig voll­zo­gen. Und doch muss ich geste­hen, dass ich erschre­cken­der­wei­se im wei­te­ren Ver­lauf sehr viel weni­ger ver­stand, als zunächst gehofft. So muss­te ich mich dar­auf ein­stel­len weni­ger mit den Ohren als mit dem Her­zen auf das Gesche­hen vor­ne und in den Bän­ken zu hören. In die­ser Mes­se sah ich die ers­te Gitar­re des Tages, und ich sah sie auch nur hier. Das war ver­gleich­bar dem Weih­rauch, den ich nur in der triden­ti­ni­schen Mes­se gese­hen habe. Der Pries­ter spiel­te sehr schwung­vol­le Wei­sen, die das Tim­bre der spa­ni­schen Men­ta­li­tät zum Aus­druck brach­ten. Ich fühl­te, dass dies eben die die­ser Gemein­de ange­mes­se­ne Wei­se des Mess­ge­sangs war.

Kreuzwegstationen in St. Clemens, Hannover — Experiment

Apostelstatue Andreas in St. Clemens, Hannover — Experiment

Resümee der Messe der spanischen Mission

Der Zusam­men­halt war für die Gemein­de von beson­de­rer Bedeu­tung. Das stell­te sich etwa bei der Pax her­aus, die sehr viel Zeit in Anspruch nahm und man auch mir sehr herz­lich die Hän­de schüt­tel­te, obwohl ich zum ers­ten Mal dort war. Die inter­na­tio­na­le Wei­te der römisch-katho­li­schen Kir­che und die rela­ti­ve Ein­heit ihrer nach­kon­zi­lia­ren lit­ur­gi­schen Gestal­tung sind mir in die­ser Mess­fei­er beson­ders bewusst gewor­den. Ähn­lich der triden­ti­ni­schen Mes­se, bei der der Groß­teil der Gebe­te in der Stil­le voll­zo­gen wird, erhielt ich auch in die­ser Mes­se sehr viel Raum zur per­sön­li­chen Anbe­tung. Es war tat­säch­lich unge­wohnt wohl­tu­end, so wenig zu ver­ste­hen. Genau­er könn­te ich noch sagen: so wenig ver­ste­hen zu müs­sen. Es ging nicht mehr um mich und mein Ver­ständ­nis und mei­ne gedank­li­che Leis­tung. Ich war mit einem Mal bloß stil­ler Teil der beten­den Gemeinde.

Detail Seitenportal von St. Clemens, Hannover — Experiment

Zwischenstand nach der vierten Messe — Das Experiment im Endspurt

Nach der vier­ten Mes­se trat mir der Reich­tum vor Augen, den ich über das Expe­ri­ment erfah­ren durf­te. Im Grun­de genom­men war ich nun ein­mal nach Spa­ni­en gereist und hat­te dort eine Kir­che besucht. Natür­lich – und das soll­te ich wirk­lich nicht ver­schwei­gen – war ich zu die­sem Zeit­punkt schon sehr müde und über­leg­te, ob es über­haupt Sinn hät­te, das Expe­ri­ment noch ganz durch­zu­füh­ren. Denn nach der vier­ten Mes­se hat­te sich eine gewis­se Sät­ti­gung ein­ge­stellt. Aber ich woll­te nicht klein bei­geben. Und so ließ ich die Erleb­nis­se des Tages Revue pas­sie­ren, wäh­rend ich der Son­ne beim Abend­lauf zusah. Zur aka­de­mi­schen Zeit, näm­lich um 19ct (19.15 Uhr), soll­te es wei­ter­ge­hen mit der Mes­se der Katho­li­schen Hoch­schul­ge­mein­de.

Apokalyptisches Motiv Leuchter auf dem Kirchenportal von St. Clemens, Hannover — Experiment

Gottesdienst der Katholischen Hochschulgemeinde

Als ich in Müns­ter stu­dier­te, wohn­te ich dort in der Evan­ge­li­schen Stu­die­ren­den­ge­mein­de (ESG) und habe aus die­ser Zeit vie­le Erfah­run­gen mit Hoch­schul­got­tes­diens­ten gesam­melt. Es ist in der Tat ein spe­zi­el­les Gen­re der lit­ur­gi­schen Viel­falt. Denn die­se Got­tes­diens­te rich­ten sich an ein spe­zi­el­les aka­de­misch-aus­ge­bil­de­tes Milieu und bedie­nen sich meist einer beson­de­ren Spra­che, die eben­falls die­sem Zusam­men­hang ent­springt. Zugleich habe ich erwar­tet, dass in der Vor­be­rei­tung des Hoch­schul­got­tes­diens­tes die Stu­den­ten der KHG ihre per­sön­li­che Lebens­wirk­lich­keit mit ein­brin­gen. Dar­um ver­mu­te­te ich, dass in der KHG-Mes­se das meis­te krea­ti­ve Poten­zi­al lie­gen wür­de, dicht gefolgt von der Spät­mes­se am spä­ten Vormittag.

Detailaufnahme Kanzel in St. Clemens, Hannover — Experiment

Liturgische Gestaltung der KHG-Messe

Die Sakristeiglo­cke erklang nun zum fünf­ten Mal an die­sem Tag und die Gemein­de erhob sich für den Ein­zug des lit­ur­gi­schen Diens­tes. Auch beim fünf­ten Got­tes­dienst des Tages war das Haupt­schiff der Kir­che gut gefüllt. Wie bereits ver­mu­tet, saßen vor allem Stu­die­ren­de und Leh­ren­de in den Bän­ken. Was ich aller­dings nicht erwar­tet hat­te, war, dass der Propst, den ich am mor­gen im Hoch­amt ken­nen­ge­lernt hat­te, den Ein­zug abschloss. Der Stu­den­ten­pfar­rer schien aus gesund­heit­li­chen Grün­den aus­ge­fal­len zu sein und so ist der Propst für ihn ein­ge­sprun­gen. Die Minis­tran­ten tru­gen Stra­ßen­klei­dung. Auch das scheint zum Flair zu gehö­ren und dar­in berüh­ren sich evan­ge­li­sche und katho­li­sche Hoch­schul­got­tes­diens­te. Von der lit­ur­gi­schen Gestal­tung her erin­ner­te der Hoch­schul­got­tes­dienst sehr stark an das Hoch­amt. Da aber ver­mut­lich der Propst und ich die ein­zi­gen bei­den waren, die an bei­den Fei­ern teil­ge­nom­men hat­ten, fiel das nicht wei­ter auf.

Ähn­li­ches galt natür­lich für die Pre­digt zum Sämann, deren Kern­ge­dan­ken ich auch im Hoch­amt bereits gehört hat­te. Lang­wei­lig wur­de es mir aber des­we­gen nicht. Im Gegen­teil freu­te ich mich schon dar­über sie ein wei­te­res Mal zu hören. Und der Propst schaff­te es, da er sie wie­der extem­po­rier­te, neue Gedan­ken hin­zu­zu­fü­gen. Eine klei­ne Anek­do­te zum kürz­lich heim­ge­ru­fe­nen Erz­bi­schof em. von Köln Joa­chim Kar­di­nal Meis­ner möch­te ich ger­ne hier wei­ter­erzäh­len. Die­ser leg­te die ver­schie­de­nen Boden­sor­ten, auf die der Same des Sämanns fällt, näm­lich so aus, dass wir als Men­schen nicht immer von glei­cher Boden­be­schaf­fen­heit sei­en. Wenn man es mit den schwar­zen Böcken und den wei­ßen Scha­fen sagen wol­le, sei­en wir eigent­lich Zebras. Da sei­en vie­le gute und vie­le schlech­te Strei­fen an uns. Die müs­se der Herr an uns zurecht brin­gen. Ein tröst­li­ches Bild war mir das für die Erschöp­fung in der spä­ten Abendstunde.

Fuß des Taufsteins in St. Clemens, Hannover — Experiment

Apostelstatue Philippus in St. Clemens, Hannover — Experiment

Endstand nach der fünften Messe

Als die Orgel ver­klang, war das Expe­ri­ment been­det. Ich war unglaub­lich müde. Dann fiel die gesam­te Anspan­nung des Tages von mir ab. Am sel­ben Tag hat­te ich in der sel­ben Kir­che fünf völ­lig ver­schie­de­ne Wege zu dem einen Herrn Jesus Chris­tus erlebt. Das muss­te ich erst­mal ver­dau­en. Vie­le Ein­drü­cke kamen immer wie­der in mein Bewusst­sein. Vom grund­le­gen­den Mus­ter waren alle Fei­ern ver­gleich­bar. Und doch war kei­ne eine Kopie der ande­ren. Selbst die Mes­se der KHG, die ich in etwas ver­än­der­ter Form mit dem­sel­ben Zele­bran­ten ja am Vor­mit­tag schon erlebt hat­te, führ­te wie­der auf einem ganz eige­nen Weg zu Chris­tus. Die Gleich­wer­tig­keit aller Eucha­ris­tie­fei­ern, die das Amt der Kir­che gewähr­leis­te­te, trat mir bald vor das inne­re Auge. Durch das Expe­ri­ment hat­te ich einen unglaub­li­chen Reich­tum erlebt. Obwohl es heißt, dass die römi­schen Mes­sen immer die­sel­ben wären.

Prospekt der Orgel in St. Clemens, Hannover — Experiment

Kuppel Detail von St. Clemens, Hannover — Experiment

Das Experiment ist beendet.

Eine all­ge­mei­ne Zusam­men­fas­sung wer­de ich hier nicht geben kön­nen. Wie ein Schwamm habe ich an die­sem Tag alle Ein­drü­cke in mich auf­ge­nom­men. Man­che lagen mir näher. Ande­re wie­der­um kamen mir frem­der vor oder lie­ßen Fra­gen zurück. Das Expe­ri­ment hat­te, wenn ich auch auf eine haar­klei­ne Aus­wer­tung ver­zich­te, den­noch ein ein­deu­ti­ges Ergeb­nis. Unter dem Dach der Einen Kir­che sind die Wege viel­fäl­tig, die zu Chris­tus füh­ren. Dies gilt für die römi­sche Kir­che als Teil der Una Sanc­ta, wie auch für die Kir­chen in öku­me­ni­scher Wei­te. Es ist ein schö­nes Bild, dass der Altar, der die­se Viel­falt jeden Sonn­tag erlebt, direkt unter der Kup­pel steht: Denn ganz im Ein­klang mit dem Expe­ri­ment und sei­ner Erkennt­nis ver­kün­det ihre Inschrift:

credo in unam sanctam
catholicam et apostolicam ecclesiam.

Kuppel St. Clemens, Hannover — Experiment