Mittelalterliche Karten zeigen oft ein ganz ungewohntes Bild von Europa. Das Alter hat ihr Pergament vergilbt. Ihre Aufschriften sind darum meist unleserlich. Die Grenzen der Ländereien auf ihnen sind verschoben. Viele Landstriche tragen sogar Namen, die längst vergessen sind. Und bis in die keltischen Regionen der Bretagne finden sich in ganz Europa seltsame kleine Landschaftsflecken, die gar nicht recht zu passen scheinen. Denn sie tragen den Namen Prüm. Heute ist es bloß noch ein kleines Städtchen in der Westeifel mit einer übertrieben-wuchtigen Kirche: damals aber war Prüm das prächtige Zentrum der Macht der Fürstäbte. Die Reichsabtei dort war mein Ziel. Und sie atmet auch noch 223 Jahre nach ihrer gewaltsamen Auflösung den Geist vergangener Zeiten.
Auf dem Weg nach Prüm
Die Straße nach Prüm führte durch bewaldete Hügel. Serpentinen fuhr mein kleiner Wagen und als ich nach einer scharfen Kurve die Augen vom Straßenverlauf erhob, erblickte ich das weißgetünchte Abteigebäude, das stolz mitten in der Talsenke stand. Den Wagen abgestellt, begrüßte uns eine Steinstatue des siebten Abtes von Prüm, Regino. Er schien gerade an seinem berühmten Chronicon zu arbeiten. Begleitet wurde ich von einem Mitbruder und einer lieben Freundin von uns beiden — nebenbei bemerkt: über die zwei kam ich zum Fuchsnamen. Wir liefen also einmal um das heute als Gymnasium genutzte Gebäude herum. Und auf den ersten Blick schon fiel uns der Schmuck an ihm ins Auge. Er kündet von der Bedeutung und dem Reichtum, die das kleine Eifelstädtchen einmal hatte.
Ausgrabung auf dem Kirchenvorplatz
Es muss ein ganz anderes Lebensgefühl gewesen sein, als Architektur noch mehr wollte als bloß Funktionen zu erfüllen. Heute ist das fast verwegen zu denken, aber Gebäude waren einmal aus sich heraus schön. Auch ohne bemühte Erklärung eines vom eigenen Werk begeisterten Architekten erkannte jeder Laie das. Teilweise waren die Gebäude sogar verspielt und drückten die freudige Lust am Leben aus. Der Gedanke kam mir, als ich vor der alten Abtei- und heutigen Pfarreikirche St. Salvator stand. Im Moment wird dort die alte Abtsburg ausgegraben. Unter dem Schutt etwa eines Meters unter dem Marktplatz von Prüm fand man die alten Fundamente, die zeigen, dass die Abtei mit ihren großen Besitztümern ein auch mit Waffengewalt umkämpfter Ort war. Das führte zu der Kuriosität, dass nach dem 12. Jahrhundert jeder neue Novize sein eigenes Schwert mit Panzer ins Kloster mitbringen musste. Ich hingegen war nur mit meiner Kamera und erwartungsvoller Spannung bewaffnet.
Die Abteikirche von Prüm
Als ich das Kirchenschiff betrat, bestürmten mich alle möglichen Eindrücke. Da war zu meiner rechten, der kleine Info-Devotionalien-Kirchenführerinnen-Stand, der später noch von Bedeutung sein würde. Zur Linken hinter einer hohen Glastür die Anbetungskapelle, deren güldenen Reliquienschrein ich erst später wahrnahm. Schließlich erstreckten sich vor mir Bänke, das hölzerne Chorgestühl so seltsam leer und endlich begrenzte ein riesiger Hochaltar den Chorraum. Es sind diese Momente, in denen ich – die Finger der rechten Hand bereits im Weihwasserbecken – unwillkürlich überlege, zu welcher Bank ich gleich gehen werde. Mein erster Zugang zu einem Kirchraum ist das Gebet in der Stille. Den Platz erkoren lief ich etwa in die Mitte des Kirchenschiffs. Kniebeuge und dann Kniebank.
Eine Kirche ohne Mönche
Da saß ich nun nach dem Beten und blickte umher. Der Marienaltar zu meiner linken war mir bisher entgangen, gegenüber ein weiterer. Das Chorgestühl allerdings fing meinen Blick und ließ ihn nicht mehr los. Dort hatten die Mönche von Prüm gestanden und ihre Stundengebete gesungen. Damals notwendiger Gebrauchsgegenstand, heute museale Erinnerung. Auch jetzt, da ich dies niederschreibe, fühle ich mich so leer wie die Stallen des Gestühls. Fast erwartete ich, dass das Holzportal zur Klausur aufging und der Chor der Mönche gemessenen Schrittes und, wie die Regel des heiligen Mönchsvaters Benedikt es verlangt, gesenkten Blickes zur Non schritt. Es war etwa 15 Uhr, die Sterbestunde des Herrn, als ich aufstand und die Dame gewahr wurde, die mit einem Mal neben mir stand.
Die Kirchenführerin von Prüm
Sie trug eine Brille mit breitem Plastikgestell. Auf ihm war bunt das Stadtwappen neben dem auffällig-lokalpatriotischem Aufdruck „Prüm“ gedruckt. Sie schien ganz begeistert über den Besuch, den wir ihrer Kirche abstatteten. Es war eine der Damen, die so gewinnend strahlen können, dass ihnen schließlich ganze Kirchen gehören. Ich lächelte sie an, als sie sich entschuldigte, dass wir einen Tag zu früh hier seien; Die Sandalen Christi würden ja erst morgen ausgestellt, aber wir sollten doch bitte auch nach vorne in den Chorraum treten; Und überhaupt gerne auch photographieren, es gäbe viel zu sehen; Das könnte ich ihr ruhig glauben, denn sie müsse es wissen; Immerhin habe sie schon Angela Merkel durch die Kirche geführt. Ich lächelte und war etwas überfahren von ihrer herzlich-verbindlichen Art. Tapfer lief sie nach vorne und erwartete, dass ich ihr folgte. Dort komplimentierte sie mich hinter die Chorschranke und ließ mich staunend im Chorraum zurück.
Das Altarensemble
So stand ich direkt vor dem Hochaltar und blickte wie die Figuren zweier besonderer Heiliger staunend auf das Altarbild. Das zeigte, wie die Engel eine Krone auf das Haupt der Jungfrau herabsinken lassen. Zu Rechten der Jungfrau stand die Figur des heiligen Benedikt, der die Voraussetzungen des benediktinischen Lebens überhaupt schuf. Und zur linken auf der Seite des Herzens der Gottesmutter blickte die Heilige Bertrada auf zu dem heiligen Geschehen. Sie stiftete das Kloster und ermöglichte das Leben der Mönche in Prüm. Sie steht dort sicher nicht zufällig: Dem Herzen der Gottesmutter am nächsten, dort wo einst Johannes an der Brust des Herrn lag. So groß war die Verehrung und die Dankbarkeit der Mönche für diese heilige Frau, dass man sie zur Zeit des Altarbaus auf den Ehrenplatz stellte. In gewisser Weise vervollkommnet während des Gottesdienstes der elevierende Priester hier das Altarensemble und wird zu einer dritten aufblickenden Figur.
Das Kaisergrab Lothars I.
Auf der Epistelseite parallel des Schreins, der die Sandalen Christi in einem Prachtschuh enthält, liegt heute Kaiser Lothar I. begraben. Er verstarb am 29. September 855 als Konventuale von Prüm. Das berühmte Prümer Evangeliar hat er dem Kloster geschenkt. Zwar ist das Hochgrab erst 1874 unter dem deutschen Kaiser Wilhelm I. erneuert worden, dennoch ist die Grablege ein beeindruckender Beleg für die enge Verbindung der Mönche der Abtei mit dem höchsten Adelsgeschlecht des alten römischen Kaiserreiches deutscher Nation. Der Hohenzoller Wilhelm I. verlieh durch die Sorge für das Kaisergrab seiner eigenen Herrschaft den Anschein der Kontinuität zur fast legendären Herrschaft der Karolinger. Und doch entstand dieses Hochgrab erst, als die Abtei von ihren Mönchen lange verlassen war. Lothar I., der nur wenige Tage das Kleid des Mönchtums trug, ist heute vielleicht nicht der letzte, gewiss aber der auffälligste Wächter seiner Mitbrüder im Chorraum von Prüm.
Der Volksaltar
Es ist eine seltsame Entwicklung in der römischen Kirche, dass sie seit der Mitte des 20. Jahrhunderts ihren vollständig intakten und immer zur Nutzung bereiten Besitz nicht mehr benutzt und stattdessen für viel Geld zusätzliche, neue Möbel kauft. So geschah es überall mit den Altären. Die Hochaltäre sind heute oft nur noch als übergroße Sakramentsschränkchen im Gebrauch. Ich empfinde dies als eine merkwürdige Verkehrung. Auch in Prüm sieht man einen kleinen dunkelbraunen Holztritt mittig vor der Mensa des Hochaltars stehen. Er macht es unmöglich an ihm zu zelebrieren, aber er steht jederzeit bereit, damit der Altar von einem mittelgroßen Menschen erklommen werden kann, um aus ihm den heiligen Leib des Erlösers zur Feier der Eucharistie zu entnehmen.
Ein Kirchraum ohne Liturgie
Auf dem Weg zurück zur kunstvoll gearbeiteten hölzernen Kommunionbank, die mir besonders ins Auge fiel, weil mein Großvater Holzbildhauer war, wurde mir bewusst, dass es ein seltsames Unterfangen ist, einen Kirchraum kalt zu erleben. Kalt nenne ich den Zustand, wenn dort nicht die heilige Liturgie gefeiert wird. Die Abteikirche von Prüm ist seit langem nicht mehr richtig heiß gelaufen. Das soll beileibe nicht bedeuten, dass die Pfarrei nicht fähig wäre, würdige Gottesdienste zu feiern. Nein, mein Eindruck der Kirche war, dass sie seit langer Zeit dämmert. Denn jeder Kirchraum fordert durch seine architektonische eine bestimmte liturgische Gestaltung. Das ist ein Grundsatz, der seit ältester Zeit alle Liturgie prägt. Diese Kirche braucht den Mönchschor. Und fast hatte ich das Gefühl, ihre Mauern trauerten und erträumten sich den sehnsuchtsvollen Ruf der Männer:
Deus in adiutorium meum intende.
R. Domine ad adiuvandum me festina.
Vielleicht riefen die Mauern dies selbst stumm zum Herrn.
Die Kirchenführung
Als ich an der Kommunionbank stand, trat wieder die Dame mit der auffälligen Brille an meine Seite. Anscheinend hatte ich jetzt genug gesehen und sollte nun auch noch die wichtigen „POI — Points of interest“ entdecken. Nun war ich gespannt und wurde in professioneller Manier und mich aufrichtig beeindruckender Detailverliebtheit durch die restliche Kirche geführt. Sie erzählte mir, dass sie für die Rettung der Kommunionbank eingetreten sei, die anscheinend entfernt werde sollte. Und traurig war sie, weil der letzte Priester der Pfarrei wegen des Widerstands gegen seine Suche nach einer Liturgie, die dem Ort gerecht werden will, seine Stelle kraftlos aufgeben musste.
Ob ich sie richtig verstanden hätte, vergewisserte ich mich. Ja, der Priester wollte wieder lateinische Messe hier feiern und man hat ihn und seine Energie zersetzt. Ich beließ es dabei, weil ich nicht in dieser Wunde bohren wollte. Jeder mag sich seinen Teil denken. Sie zeigte mir jedenfalls noch einige Schätze der Kirche und ich bin ihr heute noch dankbar für die vielen kleinen Winke, die mir ohne ihr liebevolles Engagement gar nicht aufgefallen wäre. Zu welcher Ordensgemeinschaft wir denn gehörten, fragte sie meinen Mitbruder, als ich in die Gebetskapelle ging, die als Ort der Stille nochmal durch Türen von der Kirche abgetrennt ist.
Die Ärztekapelle von Prüm
Es sind diese kleinen Moment der plötzlichen Stille, die mir immer ganz besonders in Erinnerung bleiben. Als die Glastüren zur Ärztekapelle von Prüm hinter mir zuschwangen, war es still und ich stand mit einem Mal allein bei Gott. Vor mir ein hölzerner Hochaltar, der sicher einmal der Hauptaltar von Prüm gewesen ist, und unter der von ihm abgerückten Mensa war ein goldener Schrein zu sehen, der die Reliquien der drei Ärzte enthielt, die hier neben den Sandalen Christi besonders verehrt werden.
Besonders gefiel mir, dass hier an der Stelle der Gebetskapelle in alter Zeit der Kirchenbau das Baptisterium vorsah. So nannte man die Taufkapelle, in der die Menschen in den Leib Christi eingetauft wurden. Ob dies jemals für den Grundriss von St. Salvator in Prüm galt, weiß ich nicht. Aber mir gefiel die Ruhe dieses Ortes, die tatsächlich zum Gebet einlud, weil sie die Intimität ermöglichte, die das persönliche Beten so dringend benötigt. Und der Ort des Gebets und der Besinnung am Ort der Taufe erscheint mir bis heute als eine glückliche Korrespondenz.
Der Abschied aus St. Salvator
Ich hörte die Kirchenführerin einen Spruch von Abt Caesarius von Prüm zitieren, als ich aus der Gebetskapelle heraustrat. Sie strahlte meinen Mitbruder an, der sich eine Kerze gekauft hatte, und drückte mir ein Heft in die Hände, das sie mir schenken wollte. Diesen kleinen Kirchenführer hat sie selbst veröffentlicht und wie sich herausstellte, hat sie einen nicht geringen Einfluss im Stadtrat von Prüm. Ihretwegen etwa kündet das Ortseingangsschild heute: Karolingerstadt Prüm. Meine Ausgabe von Prüm und die Karolinger liegt gerade neben mir und ich habe sie mit viel Gewinn gelesen. Sehr herzlich wurden wir von ihr verabschiedet. Ich denke gern an sie zurück.
Nach der Kirche ein Eis
Aus der Kirche herausgetreten standen wir wieder auf dem Vorplatz mit der Ausgrabung. Zwischen Baustellengitterzäunen hindurch liefen wir ein wenig bergan zu einem Eiscafé, das direkt gegenüber der Kirche liegt. Wir genossen an diesem warmen Sommertag strahlenden Sonnenschein und bestellten uns Eis und Kaffee. Die Eindrücke aus der St. Salvator-Basilika waren natürlich noch sehr präsent und ich freute mich besonders darüber, dass die beiden einmal hautnah mitbekommen haben, wie viel der Liturgiefuchs erlebt. Denn ich muss sagen, die Menschen zu erleben, die die Orte der Liturgie prägen, ist mir eine mindestens genauso große Freude.
So saßen wir auf der Terrasse des Cafés und wurden von der Bedienung gefragt, ob wir denn aus Rom kämen. Das verneinten wir wahrheitsgemäß und wiesen auch die Vermutung zurück, dass wir Priester seien. Nach einer kurzen Erklärung fragte sie uns, ob wir denn einen Rosenkranz für sie hätten, den wir ihr schenken könnten. In einem Eifelstädtchen hatte ich nicht mit einer solchen Frage gerechnet. Dennoch war ich froh, dass ich ihr eine wundertätige Medaille schenken konnte, worüber sie sich sehr freute. Und wir versprachen ihr unser fürbittendes Gebet. Seither bin ich besser vorbereitet.
Pracht und Macht
Wenn ich heute, da ich dies schreibe, an Prüm zurückdenke, bleibt mir neben den beiden Damen vor allem das leere Chorgestühl in Erinnerung. Dass die Abtei heute das Regino-Gymnasium beherbergt, ist sicher die zweitschönste Verwendung, die die mittelalterlichen Horte der Gelehrsamkeit in unserer Gegenwart haben können. Ihre schönste Verwendung bleibt in der allabendlichen Bitte der Mönche aufgehoben: „Und mehre unsere Zahl.“ Gebe Gott, dass die Bitte durch reiche Berufungen erhört werde. Etwas schal bleibt mir aber auch der Spruch von Abt Caesarius, den ich am Stand der Kirchenführerin hörte, im Kopf:
„Die Frömmigkeit gebar den Reichtum,
der Reichtum zerstörte die Frömmigkeit;
und nach deren Zerstörung schwand auch der Reichtum.“
Ob Prüm allerdings daran zugrunde ging oder an den Menschen, die mit drei Schlagworten meinten sich selbst heil machen zu können — Das kann ich nicht beurteilen. Es bleibt für mich als Frage offen und unlösbar im Raum stehen.