An Ostern fahre ich traditionell nach Köln zur evangelischen AntoniterCityKirche. Sie wird mit einem Augenzwinkern der „evangelische Kölner Dom“ genannt. Sicher ist darin schon aufgrund der Lage ein wahres Wort gesprochen: Denn die Kirche liegt mitten auf der lauten Schildergasse — „Kölns Shoppingmeile Nr. 1“. So ist diese gotische Kirche nach dem echten Kölner Dom die am zweithäufigsten besuchte. Im ganzen Trubel der Großstadt ist sie Schnittstelle zwischen Kirche und Öffentlichkeit. Für mich ist diese Kirche auch ein wichtiger Meilenstein auf meinem eigenen Weg. Denn in ihrer Ökumenischen Choralschola Köln habe ich selbst viele Jahre lang gesungen. Und eigentlich kann ich sogar sagen, dass mein Weg zur Liturgiewissenschaft hier begann: Ich war fasziniert von den alten Gesängen der westkirchlichen Tradition wie Ecce lignum crucis. Die tiefe Kraft und ruhende Ausstrahlung der Gesänge berühren Menschen seit Jahrhunderten. Mit ihnen prägt die Schola viele Gottesdienste im Jahr. Dazu gehört auch die Karfreitagsliturgie.
Ostern — Aus drei mach eins
Das Osterfest wird an der AntoniterCityKirche in der alten Form des Triduum sacrum begangen. Von Gründonnerstag bis zum Ostertag wird ein zusammenhängender Gottesdienst gefeiert. Ein liturgischer Spannungsbogen reicht vom Tisch des Herrn über Verrat, Gefangennahme und Tod bis hin zur Herrlichkeit Seiner Auferstehung. Das bedeutet natürlich nicht, dass man in dieser Zeit in der Kirche kampieren muss. Vielmehr entfallen liturgische Elemente wie zum Beispiel der Segen, der einen Gottesdienst normalerweise abschließt. Stattdessen wird er durch einen schlichten Friedensgruß als Sendungswort ersetzt. Dadurch werden – liturgisch gesprochen – aus drei Gottesdiensten ein einziger.
Ostern beginnt — Der Gründonnerstag
Die Eucharistie, die aus der Inkarnation kommt, ist Zentrum des christlichen Glaubens. Die Nacht, in der sie ihren Anfang aus dem Handeln und Auftrag des Herrn nahm, steht am Beginn des Ostergeschehens. Bevor Christus verraten wird und in den Tod geht, lässt Er den Menschen das Sakrament Seiner Nähe als Proviant, bis Er wiederkommt. Er hat – trotz des Verrates – so für sie gesorgt. Und als die Jünger Ihn verloren glauben auf dem Weg nach Emmaus, erinnert der Auferstandene sie an diese Nacht. Dieses Vorbild aus Seinem Handeln hat die Kirche seither zur Grundlage ihrer Liturgie gemacht. Deswegen nennt die evangelische Kirche die Eucharistie auch das Heilige Abendmahl. Wir sind auf dem Weg und benötigen den Herrn selbst als unseren Proviant. Jede Feier der Eucharistie führt uns zurück zu diesem Abend und zu Christus, der an uns handelt. Diesen Kerngedanken atmen alle christlichen Gottesdienste. Wenn Pfingsten der Geburtstag der Kirche ist, dann ist Gründonnerstag Geburtstag ihres Gottesdienstes.
Hoher Freitag — Die Kreuzigung
Der Altar – altes Symbol für Christus selbst – ist leer. Er ist nackt den Blicken der Menschen ausgeliefert. Am Ende des Gründonnerstages wurde er abgedeckt. Allein die Dornenkrone auf einem violetten Kissen ist geblieben. Es ist in dieser evangelischen Kirche das einzige Mal im Jahr, dass der schwarze preußische Talar getragen wird. Also auch der liturgische Dienst ist bis auf das Untergewand entkleidet. Dies alles ist Ausdruck der Trauer und des Verstummens. Die Menschen sind an diesem Tag mit ihren eigenen Abgründen und all den Dingen, die wir gewöhnlich verbergen wollen, konfrontiert.
Gregorianik — das Unfassbare gewinnt Wortgestalt
Neben der Verlesung der Passionsgeschichte und den Improperien sind die gregorianischen Choräle das bewegendste Element der gottesdienstlichen Feier. Sicher, es ist beeindruckend den Text der Passion zu hören — vor allem, wenn die Anklagen durch das Volk „Lass ihn kreuzigen!“ von der Orgelempore gerufen werden. Mir wird daran zweierlei deutlich: zum einen, dass wir uns in einem evangelischen Gottesdienst befinden, aber zum anderen auch wie sehr wir selbst zu diesem Mob gehören, der den Herrn ans Kreuz brachte.
Fast wohltuend kühl wirkt da die stille Theologie der Gregorianik. Es gibt auf YouTube viele Beispiele, eines habe ich weiter oben ja schon verlinkt. Hier möchte ich auf den Gesang verweisen, der in meinen Augen in der Mitte des ganzen Geschehens ist. Es ist die Situation des Jüngers, der fassungslos vor der brutalen Foltergewalt des Kreuzes verharrt. Auch wer nie Latein gelernt hat, hört die Klage, die sowohl den Römern gilt, die den Herrn kreuzigten, wie dem eigenen Verschulden, das die Grausamkeit nicht zu verhindern versuchte.
Kreuzverehrung
In einem evangelischen Gottesdienst, der sich der zweifelsohne hehren, oft auch pädagogisierenden Geistigkeit seiner liturgischen Formen verschrieben hat, ist die Kreuzverehrung sicher das größte Kuriosum. Diese alte liturgische Tradition der ungeteilten Christenheit wird auch in Köln an der Antoniterkirche bewahrt. Dabei changiert die Wirklichkeit. Ich stehe vor dem Kreuz in Köln und doch zugleich auch fassungslos auf Golgatha. Die Liturgie schenkt mir die Erinnerung meiner Väter.
Gott ist tot. Der Mensch lebt. Nicht anders konnten die Augen des Menschen es erblicken. Es ist die verkehrte Welt, die sich offenbarte, als man vor dem Kreuz stand. Die ganze Gemeinde trat nach vorne und verharrte einen Moment vor dem Kreuz. Sie wurde gewahr, dass der Herr für sie diesen Weg auf sich genommen hatte, und zog schweigend zurück an ihren Ort.
Gehet hin im Frieden des Herrn!
Am Karfreitag wird mir das Fehlen des Segens besonders deutlich. Es ist die unversöhnliche Situation, die dem Menschen die Sprache raubt. Es gibt keine Versöhnung, die der Mensch wirken könnte. Für ihn ist alles verloren. Er hat alles verspielt. Der einzige, der jetzt noch handeln kann, ist der Dreieine Gott selbst. Darum bleibt Sein Frieden. Sein Frieden ist das einzige, was bleibt.
Osternacht und Ostersonntag
Es liegt in der Natur der Sache, dass mir die Worte fehlen, wenn ich an die Nacht der Ostern denke. Nach dem stummen Ausharren, das ich jedes Jahr sehr intensiv erlebe, ist der Gang zur Kirche am Samstagabend ein Akt der Befreiung. Eigentlich müsste ich sagen, dass es kein Gang ist, den ich mir selbst aussuche. Nein, viel treffender muss ich sagen, dass ich gezogen werde. Es ist auch wirklich kein schöner Kirchgang. Die Grabesstille und die Dunkelheit der Nacht haben wenig gemein mit dem Ostern meiner Kindheit. Da jagte ich durch den Garten. Und suchte unter den Büschen kleine Nester mit bunten Eiern.
Ostern — Offenbarung der Wirklichkeit Gottes
In der Antoniterkirche gibt es eine Säule, die nicht übertüncht wurde, sondern die bunte Struktur der alten Malerei der Kirche offenbart. In diesem Jahr habe ich an dieser Säule, an der freigelegt wurde, was das menschliche Auge nicht sehen kann, eine kleine wortlose Predigt zu Ostern gehört. Für den Menschen damals muss Christus am Kreuz gestorben sein: Er ist ins Grab gelegt worden. Für uns heute ist die Kirche eintönig gräulich-weiß. Aber wem der Herr offenbart, dass Er nicht im Tode verblieben ist, wer sehen darf, wie prächtig und farbenfroh das Reich Gottes ist, der sieht die Welt und lebt im Hier und Dort, wie es im Anfang war. Und ist und sein wird.